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Kolumne

Zeig mir deinen Kühlschrank, und ich sag dir, wer du bist

Wir leben in „woken“ Zeiten, Worte und Taten werden kritischer betrachtet als eh und je. Diese Errungenschaft befördert auch existenzielle Überlegungen: was kaufe ich, was sage ich, wer bin ich? Ein 200 Jahre alter Russe kann uns helfen, damit einfacher umzugehen.

 

Im November 1821 erblickte in Moskau ein Mann das Licht dieser Welt, der Casinobesitzern und Geisteswissenschaftlern gleichermaßen große Geschenke zuteil kommen ließ. Neben seinem berüchtigten Hang zum Spiel schrieb Fyodor Dostojewski nämlich auch Bücher. Darunter zahlreiche literarische Meisterwerke, die viele Schriftsteller nach ihm beeinflussten, und auch dem Philosophen Nietzsche und dem Psychologen Freud eine Inspirationsquelle waren. Auch deshalb gilt er als Mitbegründer des Existenzialismus, also ganz vereinfacht der Idee: Jeder Mensch schafft sich die eigene Moral und löst den lieben Gott in seiner Hauptrolle als Sinnstifter ab. Macht jetzt jeder für sich.


Nun sind 200 Jahre vergangen. Und nie und nimmer hätte Dostojewski zu träumen gewagt, wie sehr wir auf der Stelle tapsen. Moraldiktat links, Ethikkeule rechts, selten hat es Zeiten gegeben, in denen es mehr Verhaltensvorgaben gab als heute.

Fangen wir im Supermarkt an. Zwar sind noch nicht einmal sieben Prozent der deutschen Lebensmittel aus biologischem Anbau, aber in den bourgeoisen Stadtteilen, wo die Welt noch in Ordnung ist, ist jeder zweite ein Bio-Supermarkt. Klar, du kannst jetzt zwar die einfache H-Milch beim Aldi holen, aber erklär das mal der Nachbarin, die du gleich im Flur triffst! Umso schlimmer, wenn der Tetra-Pak aus einer Plastiktüte herausragt, weil du mal wieder den Jutebeutel in der Küche hängen lassen hast. Alle, die dich sehen, haben jetzt diese monströse Plastikinsel in der Beringsee im Kopf, und dich, der da noch ein Tütchen drauflegt.


Andere Front: Urlaubsplanung. Im Whatsapp-Chat mit den Unifreunden taucht der Wunsch nach einer „Reunion“ auf, am liebsten in der Natur. Generation EasyJet ist hin und hergerissen. Für ein Wochenende quer durch Europa fliegen, kann man ja eigentlich nicht machen. Aber schon wieder Brandenburg, denken sich die Berliner, das geht auch nicht. Der Enthusiasmus verfliegt, Entscheidungsschwäche, die Reunion fällt aus.


Die Leichtigkeit des Seins war nie unerträglicher als heutzutage. Das unendliche Angebot beginnt beim Kaffee am Morgen (fair trade, bio, koffeinfrei, hafermilch, …), begleitet von der Entscheidung, wo er gekauft wird (Amazon, Gorillas, Penny, Kaffeeladen, …) und mit welchem Gerät er gebrüht werden soll (Mokkamacher, Filter, Chemex, Bialetti, …). Und so geht es weiter durch den Tag, kaum etwas ist alternativlos, und wer die volle Transparenz behalten will, halt bald schon FOMO (Fear of Missing Out). Mit voller Ignoranz lebt es sich da weitaus angenehmer.

Zugegeben: Globalisierung, Überkonsum, Wegwerfgesellschaft, das sind alles Themen, die uns seit den 80ern begleiten. Was aber gänzlich neu ist: Weisheit. Viel mehr Menschen wissen einfach eine Menge mehr als vorher.


Dass der Klimawandel menschengemacht ist. Dass für unser regionales Hackfleisch bulgarische Fabrikarbeiter ausgebeutet werden. Dass durch freie Märkte auf die global Ärmeren zwar Waffentechnologie, aber wenig Wohlstand herunter „trickled“.

Für die, die nicht gerade am Existenzminimum herumkrebsen (was allein in Deutschland alarmierende 16 Prozent tun), ist dieses Wissen eine unbequeme Diagnose. Wie ein kleiner Karbunkel am Gesäß, den man entfernen kann, aber nicht muss. Jean-Paul Sartre, noch so ein Existenzialist, sagte sinngemäß: Unsere Freiheit verdammt uns dazu, uns zu entscheiden.


Wozu entscheide ich mich dann, wenn ich doch bei der JA-Mozzarella bleibe? Dazu, mein Wissen um die Rinderhaltung in Niedersachsen zu verdrängen? Dazu, 40 Cent zu sparen und für etwas „wichtigeres“ auszugeben? Oder dazu, mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen?


Neben meiner eigenen Überzeugung entscheide ich mich damit auch, bewusst oder unbewusst, zu welchem Milieu ich gehöre. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu machte in den 70ern auf die feinen Unterschiede in Sprache, Kleidung und Verhalten aufmerksam, mit denen sich soziale Gruppen voneinander abgrenzen. Damals waren diese Unterschiede noch relativ zementiert, so ein Habitus galt eher angeboren als angeeignet.


Heute switcht es sich leichter. Materieller Wohlstand ist leichter zu überbrücken (wer hat heute kein iPhone?), Sprache und (Geistes)-Haltungen sind zugänglicher (Blogs, TikToks, Instakram), und mit einem scharfen Twitter-Account kommt man auch gut an ein einflussreiches Netzwerk.


Aber was bin ich jetzt für ein Mensch? Wenn die JA-Mozzarella neben dem Fairtrade-Kaffee liegt, ich gendern OK finde, aber es nicht tue, und der Portugal-Flug seit drei Tagen im Warenkorb liegt? Gibt es dafür eine Bubble, wo das alle auch so machen?

Umso mehr Dinge es zu beachten gibt, umso komplexer wird es. Fremdbestimmt, selbstbestimmt, falsch gestimmt, alles fliegt so durcheinander. Eine Sache, die immer hilft, wenn äußere Einflüsse auf einen einprasseln – das was Psychologen Entropie nennen – sind einfache Regeln. Einmal die Woche Fleisch, einmal im Jahr Fliegen, vier Mal im Monat gendern – so oder so ähnlich. Das darf jede und jeder für sich selbst bestimmen, sagen ja die Existenzialisten.


Und wem die Fülle der Möglichkeiten doch mal zu erschlagend ist, dem seien die besänftigenden Worte Dostojewskis aus „Schuld und Sühne“ empfohlen: „Durch Irrtum kommst du zur Wahrheit! Ich bin ein Mann, weil ich mich irre! Du erreichst nie eine Wahrheit, ohne vierzehn Fehler zu machen und höchstwahrscheinlich hundertvierzehn.“ Danke, Raskolnikov!