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Generation Treuhand

Die Hochburgen der Rechten liegen in den ostdeutschen Bundesländern. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am kommenden Sonntag und in Thüringen Ende Oktober könnte die AfD sogar stärkste Partei werden. Vor einem Jahr vermochten es rechtsgerichtete Gruppen in Chemnitz, viele Menschen auf die Straße zu bringen, von denen manche ihrer Fremdenfeindlichkeit freien Lauf ließen. Der Aufstieg der Rechten in den ostdeutschen Bundesländern hat nicht den einen Grund - sicherlich spielen aber die Ereignisse von 1989 ff., die zerstörten Hoffnungen auf blühende Landschaften und die Folgen der Treuhand-Politik eine wichtige Rolle.

Ein reines Ostphänomen?

Es war der 13. März 2016, 18 Uhr: Die ersten Prognosen für die Landtagswahlen in drei Bundesländern flimmerten über die Bildschirme. Strahlende Wahlsiegerin war die AfD, die Alternative für Deutschland. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg holte sie jeweils mehr als zehn Prozent, in Sachsen-Anhalt erhielt sie sogar fast ein Viertel der Stimmen.

Gerade für die AfD im Osten war der Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt ein Dammbruch. In Mecklenburg-Vorpommern konnten die Rechten ein halbes Jahr später ihr Ergebnis aus Sachsen-Anhalt fast wiederholen. Bei der Bundestagswal 2017 und der Europawahl 2019 machten jeweils mehr als 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland ihr Kreuz bei der AfD.

Es wird viel geschrieben und gestritten darüber, warum das so ist. Dabei erscheint die Partei schnell als reines Ostphänomen. Eine solche Verkürzung übersieht, dass die AfD bei bundesweiten Wahlen die meisten Stimmen - in absoluten Zahlen - im bevölkerungsreicheren Westen holt. Dennoch: Prozentual betrachtet ist die AfD in den neuen Bundesländern doppelt so stark wie in den alten. Warum erfährt die nationalistische Agenda der Rechten gerade in Ostdeutschland so viel Zuspruch?

Auf den Rausch folgte der Kater

Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich das kollektive ostdeutsche Wissen um die Sozialgeschichte infolge der Wende zu vergegenwärtigen. Kollektives Wissen abstrahiert von der Erfahrung des Einzelnen, es ist das kollektive Gedächtnis einer spezifischen Gruppe zu einer spezifischen Zeit. Das kollektive Gedächtnis im Osten weiß nicht nur um die Erfahrungen in der DDR und was 1989 geschah. Es weiß auch, welche Auseinandersetzungen seit der Wende gewonnen und vor allem: welche verloren wurden.

Gewonnen, so jedenfalls die gängige Lesart, haben die Menschen in Ostdeutschland 1989. Unvergessen sind nicht nur den Ostdeutschen die Demonstrationen, die vor 30 Jahren in Leipzig stattfanden. Meistens an Montagen gingen DDR-Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen, um für Presse-, Reise- und Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Der Rest ist Geschichte: Auf die Demonstrationen folgte am 9. November der Fall der Mauer, schließlich vollzog sich am 3. Oktober 1990 die Einheit Deutschlands. Freudentaumel damals bei vielen - auch und vor allem in Ostdeutschland. Doch auf den Rausch folgte schnell der Kater. Die Geschichte der sozialen Kämpfe ist in Ostdeutschland nach der Wende vor allem eine Geschichte der Niederlagen. Zwei verlorene Auseinandersetzungen stechen besonders hervor.

Die deutsch-deutsche Schocktherapie

Da sind zunächst die Proteste gegen die Politik der Treuhand. Die Treuhandanstalt hatte die Aufgabe, die DDR-Wirtschaft nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft umzubauen. Die ehemals volkseigenen Betriebe wurden zerschlagen, geschlossen oder verkauft. Sehr schnell kam im Sommer 1990 die D-Mark. Die rasch vollzogene Währungsreform und der festgelegte Umtauschkurs zogen der Wirtschaft in Ostdeutschland den Boden unter den Füßen weg, wie der Historiker Marcus Böick in seiner umfassenden Studie zur Geschichte der Treuhand feststellt.

Wirtschaftsliberale Beamte hofften auf ein baldiges zweites Wirtschaftswunder auf deutschem Boden. Doch das stellte sich genauso wenig ein wie die berühmten blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprach. Auch den Verantwortlichen wurde schnell klar, dass die deutsch-deutsche Schocktherapie, der möglichst schnelle Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft also, nicht ohne Opfer zu haben sein würde. Tausende Betriebsschließungen führten im Jahr 1992 zu mehr als einer Million Arbeitslosen. Dagegen regte sich Widerstand - und zu einem Symbol des Widerstands gegen die Treuhandpolitik wurden die Kalikumpel.

Am Ende wirst du gegen Wirtschaftsinteressen verlieren

Auch das Kalibergwerk im thüringischen Bischofferode sollte geschlossen und die verbliebenen 700 Bergleute entlassen werden. Das ließen diese nicht auf sich sitzen. Zunächst besetzten die Bergleute die Schachtanlagen, demonstrierten vor der Zentrale, fuhren im Autokorso zum Thüringer Landtag. Bis dahin ein typischer Arbeitskampf mit gewohnter Choreographie. Doch im Sommer 1993 traten 40 Bergleute in den Hungerstreik, Ehefrauen und Kolleginnen besetzten die Schachtanlagen.

Dieser Kampf erreichte über das Radio, das Fernsehen und die Zeitungen die Öffentlichkeit. Im ganzen Land - auch im Westen - gründeten sich Solidaritätskomitees. "Bischofferode ist überall" lautete die Losung. Die Streikenden kämpften stellvertretend für diejenigen Ostdeutschen, die sich als Verlierer, als Abgezockte der Wende sahen. Auch weil sich Beteiligte wie Unterstützer Hoffnung machten, dass das Kalibergwerk als gallisches Dorf gegen die übermächtige Treuhand tatsächlich mal einen Sieg erringen könnte - wenigstens einen symbolischen.

Nach mehr als einem halben Jahr Arbeitskampf war es dann vorbei. Nach langen und hitzigen - auch internen - Debatten stimmte eine Betriebsdelegation im Dezember 1993 der Schließung zu. Im kollektiven ostdeutschen Gedächtnis meißelte sich ein: Selbst wenn du alles gibst, selbst wenn du dein Leben aufs Spiel setzt, am Ende wirst du gegen Wirtschaftsinteressen verlieren.

Der Kampf gegen die Agenda 2010

Zehn Jahre nach der Auseinandersetzung in Bischofferode ging es wieder um soziale Gerechtigkeit - dieses Mal gegen die geplante Agenda 2010 von SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Aus dem anfänglich vereinzelten Protest in Magdeburg und Leipzig wurde schnell eine Massenbewegung in Ost und West; einer der größten Sozialproteste in der Geschichte der Bundesrepublik.

Doch die Bewegung zerfaserte, abtrünnige SPD-ler und Gewerkschafter organisierten sich in der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit, der WASG, die später mit der PDS zur Linkspartei fusionierte. Unter dem Strich ging aber auch der Kampf gegen die Agenda 2010, gegen Hartz IV verloren. Die rot-grüne Bundesregierung setzte ihr im Kern wirtschaftsliberales Programm durch, womit eine härtere Gangart gegen Erwerbslose einherging, denen seitdem mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt abverlangt wird.

Die AfD als Erbin von 89

Drei große gesellschaftliche Auseinandersetzungen in 30 Jahren - jene Kämpfe entlang der sozialen Konfliktachse, der zwischen oben und unten, gingen verloren. Den letzten Sieg, so die kollektive Erinnerung, errangen die Ostdeutschen im Herbst 1989.

Und genau daran knüpft die AfD heute an. In Brandenburg lautet ihr zentraler Wahlkampfslogan: "Wende 2.0 - vollende die Wende". Die Frontmänner des extrem rechten Flügels in der AfD vergleichen das aktuelle System mit der DDR, suggerieren, man könne ähnlich wie damals nicht frei die eigene Meinung äußern. Die Wende 89 war und ist auch für die Rechten ein positiver Bezugspunkt - als Vereinigung des Volkes und als Sieg über den Sozialismus. Und sie können sich auch auf die Ausschreitungen Anfang der 1990er-Jahre stützen: rassistische Pogrome und eine aktive rechte Szene. Die Generation Treuhand ist auch eine Generation Hoyerswerda und eine Generation Rostock-Lichtenhagen.

Die AfD präsentiert sich als Erbin von 89, und es gelingt ihr, soziale Themen aufzugreifen. Das trifft bei jenen auf Gehör, die ohnehin offen für rechtes Gedankengut sind und sich zugleich als Verlierer der Entwicklung seit der Wende sehen. Es sind all jene, die keine Hoffnung mehr haben, dass sich umfassende Solidarität auch für sie lohnen könnte. Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre und sein Team haben Arbeiterinnen und Arbeiter in Ostdeutschland interviewt. Ihr Befund: Arbeiter mit politisch rechter Haltung tendieren dazu, den Kampf um Statuserhalt und -verbesserung mit Hilfe von Ressentiments auszutragen. Anstelle universeller Solidarität tritt Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken. Diese Arbeiter, die sich eigentlich als Verlierer sehen, werten sich selbst auf, indem sie andere abwerten - etwa wegen deren Herkunft. Anders gesagt: Der Ellbogen ersetzt die kämpferische Faust.

Eine explosive Mischung

So kommt nicht nur, aber vor allem im Osten eine explosive Mischung zustande: Der rechte Kulturkampf instrumentalisiert reale materielle Sorgen und die Erfahrung, die wichtigen sozialen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte verloren zu haben. Das ist der Nährboden für Demagogen, die die soziale Frage zwar stellen, sie aber nationalistisch beantworten. Die Gründe für den Aufstieg der Rechten verstehen zu wollen, bedeutet nicht, sich mit einer erstarkten AfD abzufinden. Im Gegenteil: Das Wissen um die Ursachen für den Zuspruch für die Partei eröffnet neue Blickwinkel. Es geht um die Erinnerung an die verlorenen Kämpfe, um die Aufarbeitung der Schocktherapie der Treuhand. Wer rechten Parteien und Bewegungen etwas entgegensetzen will, muss einen Ausweg in Aussicht stellen, bei dem keine Ellbogen gegen andere zum Einsatz kommen. Es geht um eine positive Zukunftsvision, um die realistische Vorstellung, dass eine demokratische und eine soziale Gesellschaft möglich ist - auch und gerade in Ostdeutschland.

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