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Reportage

SCHRITT HALTEN

Fünf Männer mit Einsatztrauma wandern mit Eseln durch die Lüneburger Heide. Bei den Teilnehmern zeigt das viel Wirkung.

Bella ist eine Diva, sie genießt die Aufmerksamkeit. Zwei Männer haben die Eselstute mit dem glänzenden Fell in ihre Mitte genommen. Beide haben einen Strick in der Hand, der am Halfter festgebunden ist. Einer der Männer hat seinen Arm über Bellas Schulter gelegt. Als er sie loslassen will, drückt sie den Kopf in seine Seite. So, als würde sie sagen wollen: „Hey, nicht aufhören, mir hat das gefallen.“

Die zwei Männer haben viel gemeinsam. Beide heißen Dirk* mit Vornamen, beide kommen aus dem Osten der Republik. Ihre aktive Zeit bei der Bundeswehr liegt lange zurück. Aber das, was sie damals während ihrer Einsätze erlebt haben, treibt sie bis heute um. Nun, mit Bella, braucht es nicht viele Worte, um sich zu verständigen. „Ja, du Gute, komm weiter“, sagt der Ältere der beiden.

Das Trio läuft auf einem von Bäumen gesäumten Feldweg. Weiches Spätsommerlicht fällt durch die Blätter, die Luft ist frisch. Mit etwas Abstand folgen drei weitere Einsatzveteranen, die sich auf zwei Esel verteilt haben. Es ist der zweite Tag der Wanderung in der Lüneburger Heide. Aber alles wirkt so eingespielt, als wäre der kleine Eseltrupp schon wochenlang unterwegs.

Der ältere Dirk ist Ende vierzig. Ein großer Mann mit breiten Schultern und müden Augen. Seit über zehn Jahren kämpft er mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer, erzählt er: Panikattacken, Wahnvorstellungen, Schlaflosigkeit, Depressionen. Er wurde alkoholsüchtig, nahm Schlaftabletten. Ein Leben im Dämmerzustand.

Seit 18 Monaten ist Dirk trocken. Er hat eine Langzeittherapie gemacht und ist in einer christlichen Selbsthilfegruppe für Suchtkranke. Er spricht offen darüber, wer und was ihm auf seinem Weg geholfen hat. Gute Freunde zum Beispiel. Sein Glaube, den er vor einigen Jahren neu entdeckt hat. Oder die Neugier auf andere Menschen und deren Geschichten. Die Bundeswehr kommt bei alldem nicht vor.

IM STICH GELASSEN

Einer, auf den Dirk große Stücke hält, ist ebenfalls unter den Wanderern: Christian Fischer, Militärdekan und Leiter des Arbeitsfelds Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen der Evangelischen Militärseelsorge, kurz ASEM Fischer hat die Eselwanderung organisiert. Er läuft selbst mit, unterhält sich unterwegs mit den Teilnehmern. Morgens hält er eine kurze Andacht, spricht ein paar Gedanken
und spielt ein Lied auf einer kleinen Bluetooth-Box ab.

Christian Fischer begleitet seit vielen Jahren aktive und ehemalige Soldaten, die psychisch erkrankt sind. Er besucht sie zu Hause, vermittelt Hilfe und organisiert Freizeiten für die Betroffenen und ihre Familien.

Die fünf Männer, die er auf die Eseltour eingeladen hat, hat es besonders schwer erwischt. Sie haben in ihren Einsätzen Dinge erlebt und gesehen, die sie traumatisiert haben: entstellte Leichen auf dem Balkan, Feuergefechte in Afghanistan, den Stress, an einem Checkpoint um sein Leben fürchten zu müssen. Bei der Verarbeitung ihrer Traumata fühlen sie sich von der Bundeswehr im Stich gelassen. Drei von ihnen ringen um die Anerkennung ihrer Wehrdienstbeschädigung.

„Obwohl vieles gut klappt, ist hier einiges nicht so gelaufen, wie es eigentlich sollte“, sagt Fischer.Nur einer der Teilnehmer ist noch im Dienst. Er ist Soldat des Kommandos Spezialkräfte. Gerade sei er in Schutzzeit, um seine PTBS auszukurieren. Mehr will er nicht sagen.

Bei der Eselwanderung sollen die Männer Kraft tanken. Fünf Tage verbringen sie in einem Hotel und gehen tagsüber mit den Eseln auf Tour. Eine Auszeit, die sich die meisten selbst nicht leisten könnten, weil sie sich mit einer kleinen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Gelegenheitsjobs durchschlagen. Für eine geregelte, tägliche Arbeit sind sie psychisch oft nicht in der Lage. Und die Esel? Die helfen, runterzukommen und zu entschleunigen, sagt Fischer.

Die Besitzerin der Esel, Sonja Scholling, führt meistens Familien und Paare mit ihren Eseln durch die Heidelandschaft. Am Vortag hat sie den Teilnehmern erklärt, worauf sie im Umgang mit den Tieren achten sollten. Erstens die Esel nicht zu viel fressen lassen,  weil sie an wenig Nahrung gewöhnt sind. Zweitens nicht am Strick zerren, wenn sie den Esel führen, sondern mit einem kräftigen Zug einen kurzen Impuls geben. Und drittens: durchatmen und entspannen! Esel seien nicht störrisch, sondern sehr sensibel und intelligent. Sie spürten, wenn jemand unsicher ist, und versuchten dann, auszu-
testen, wie weit sie gehen können. 

GEHEN WIE DIE ESEL

Das Fressverbot scheint dann doch nicht so streng zu sein. Nach einigen Kilometern machen die Esel Halt auf einer Heidefläche, auf der große Findlinge steinzeitliche Hünengräber markieren. „Die Esel sind es von unseren anderen Touren gewohnt, hier eine Rast einzulegen. Alles andere würden sie nicht akzeptieren“, sagt Scholling.

Die Esel haben ihr eigenes Tempo. Geht es eine kleine Steigung hinauf, trotten sie gemächlicher. Bergab beschleunigen sie leicht. Antreiben oder bremsen ist zwecklos. Am besten kommt man voran, wenn man der Geschwindigkeit der Esel folgt.

Amin* hat sich dem Schritt seines Begleitesels Felix längst angepasst. Er führt ihn gemeinsam mit Martin*, einem erfahrenen Einsatzveteranen. Über den Eselsrücken hinweg kommen sie ins Gespräch. Amin erzählt von der schwierigen Zeit, die er durchlebt, und fragt Martin um Rat.

Nach der Mittagsrast an einem kleinen See klingt leise Meditationsmusik aus Amins Rucksack. Der 39-Jährige hat gerade mehrere Monate stationäre Behandlung in einem Krankenhaus hinter sich. Jetzt ist er obdachlos, weil er hoch verschuldet ist, und froh, dass ihm Christian Fischer kurzerhand eine Unterkunft für die nächsten zwei Wochen organisiert hat.

Amin leidet seit Jahren unter einer schweren PTBS infolge eines Bundeswehreinsatzes. Er war spielsüchtig, nahm Drogen, wurde gewalttätig. „Ich wusste lange Zeit nicht, was mit mir los ist, und habe viele Fehler gemacht, die ich nicht wiedergutmachen kann. Das Einzige, was mich am Leben hält, ist der Wunsch, irgendwann wieder für meine Kinder da sein zu können“, sagt er.

DER TINNITUS IST WEG

Für Amin sind die Tage in der Lüneburger Heide wie ein Scheinwerferlicht in der Dunkelheit, die ihn sonst umgibt. „Ich fühle mich zum ersten Mal seit Monaten wieder etwas befreit und kann lachen. Nicht nur lächeln, sondern so richtig von Herzen lachen“, sagt er.

Auch bei den anderen kommt die Eseltour gut an. „Mich hat das entspannt und beruhigt“, erzählt der jüngere Dirk später. Selbst den Tinnitus, das ständige Zischen im Ohr, habe er für einige Stunden nicht mehr wahrgenommen.

Ob und wie die Gesellschaft der Esel auf den Menschen wirkt, wollen Forscher des Berliner Krankenhauses Charité herausfinden. Dazu haben die Teilnehmer zu Beginn der Woche Fragebögen zu ihrer Erkrankung und ihrem psychischen Befinden ausgefüllt. In den nächsten Tagen wird ein Team von Psychologinnen und Psycho-
logen ihnen während der Wanderung mehrmals Speichelproben abnehmen,
um das Niveau an Stresshormonen wie Cortisol zu bestimmen. Zudem wird ihr Herzschlag mit einer Pulsuhr und einem Brustgurt gemessen. Um gleichzeitig den Stresslevel der Esel zu erfassen, haben die Forscher einen extragroßen Brustgurt im Gepäck.

Das Forschungsprojekt umfasst zwei Seminare. Die Wanderung mit den Eseln und ein zweites Seminar der Evangelischen Militärseelsorge, bei dem die Teilnehmer nach dem sogenannten Eagala-Modell mit Pferden arbeiten“, sagt Andreas Ströhle, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité. Bei Eagala gehe es darum, dass Teilnehmer in der Auseinandersetzung mit Pferden therapeutisch an Themen und Inhalten arbeiten, die sie beschäftigen, erklärt Ströhle. „Bei beiden Seminaren geht es um die Arbeit mit Tieren, aber eben auf unterschiedliche Art.“

BEI WINDSTÄRKE 8 AUF DER NORDSEE

Die Ergebnisse der Forschung sollen im kommenden Jahr vorliegen. Militärdekan Christian Fischer hofft auf einen positiven Befund durch die Wissenschaftler. Er will die Eselwanderungen in jedem Fall weiterhin anbieten. „Es tut einfach gut, draußen zu sein, zu wandern und mal etwas anderes zu sehen“, sagt er. Gerade den PTBS-Patienten. „Das Trauma überlagert viel Schönes, was man davor erlebt hat. Deshalb gehört es zur Heilung dazu, schöne neue Erfahrungen zu sammeln.“

Am Abend sitzen Martin, Amin und die anderen im urigen Gastraum des Hotels bei Bier oder Limo zusammen. Dirk erzählt von einem Segeltörn, den er vor einigen Jahren mit ASEM auf der Nordsee unternommen hat. Wie er damals bei Windstärke 8 am Steuer des Zweimasters stand und das Meer um ihn herumtobte. „Das sind Erlebnisse,
die vergisst du nicht“, sagt er.

Auch die anderen Erlebnisse kommen an solchen Abenden wieder hoch. Die Bundeswehr, die Einsätze, der ganze Mist danach. Es sind Themen, die verbinden. Und aufwühlen. Vier, fünf Stunden Schlaf, mehr werden es für die meisten in der kommenden Nacht nicht werden. Kommt einfach rüber und klopft, wenn ihr nicht pen-
nen könnt, sagt Martin noch.

Sebastian Drescher

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