Michelle aus Paris lebt mit ihrer Partnerin und zwei Katzen in ihrem schönen Haus ein friedliches Autorendasein. Sandy und ihr Lebensgefährte haben das City-Appartement in Toronto gerade gewinnbringend untervermietet, um sich in ein Häuschen mit Bay-Blick in Kapstadt einzumieten. Und Nathan, Food-Stylist und Sprössling einer chinesischen Restaurantdynastie, bewohnt drei Etagen mit Dachterrasse in einem Townhouse in Vancouver.
Alle Augen sind jetzt auf mich gerichtet bei der Vorstellungsrunde der Reisegruppe in Nova Scotia. Allein, was soll ich sagen? Einst hätte ich mit Paris - Berlin - Moskau kontern können. Aber ich wohne nicht mehr in dem 20er-Jahre-Altbau mit Terrasse und Blick auf den Alex. Auch nicht mehr in der Business-WG am Roten Platz. Und schon lange nicht mehr in meinem Studentenzimmerchen hinter dem Arc de Triomphe.
„Back to Kinderzimmer", rutscht es mir heraus. Und das ist gar nicht so witzig, wie es bei meinen Mitreisenden ankommt. Nach geplatztem Stellenwechsel war auch der neue Mietvertrag passé, nun wohne ich, mit 43 Jahren, wieder bei meiner Mutter in der nordrhein-westfälischen Provinz. „O.k.", sagt Angela aus Dallas, die einen MBA in „Luxury" gemacht hat und deren Vater das Reisemagazin gehört, für das sie gerade unterwegs ist. „Du könntest Geld damit machen. Sagt dir Justin Halpern etwas?"
Nachdem auch noch seine Beziehung in die Brüche gegangen war, zog der gescheiterte Drehbuchautor direkt von Hollywood zurück in sein Kinderzimmer in San Diego. Aus Frust hat er die täglichen Parolen seines Vaters getwittert - mehr als 1,3 Millionen sind ihm gefolgt. Die gebündelten Sprüche, „Shit My Dad Says", haben es in die Bestsellerliste der „New York Times" geschafft und flimmern bald als CBS-Sitcom mit William Shatner („Captain Kirk") über die Bildschirme.
Nur bin ich Lichtjahre von Captain Kirk entfernt. Und bei uns ist es umgekehrt: Ich gebe meiner Mutter kluge Ratschläge, nicht sie mir. Während ich tunlichst gesellschaftspolitische Diskussionen meide, zugleich aber neues Konfliktpotenzial heraufbeschwöre, indem ich mich ihres jugendlich bestückten Kleiderschrankes bediene, wünsche ich mir eigentlich eine weise, ältere Dame, die mir im Labyrinth von Arbeitsmarkt, Wohnungssuche und partnerschaftlichen Wirrungen Orientierung gibt. Immerhin hat sie es zu zwei Ehen und einer Anstellung auf Lebenszeit gebracht - und sich ein durch und durch stilisiertes Zuhause für die Zeit danach geschaffen. Mit meinen Kisten und Kartons, Papierstapeln und allerlei Arbeitsgerät bringe ich nicht nur ihr Interieur, sondern auch ihr gesamtes Weltbild ins Wanken.
Abgesehen von diesen kleinen, alltäglichen Verwicklungen ist es wirklich schön, mal wieder zu Hause zu sein. Es bringt Ruhe ins Leben. Geplagt von der Jobnomaderie der letzten Jahre und vom allseits geforderten Multitasking ist das Kinderzimmer ein Hort der Ruhe und Erholung. Kinderzimmer, das ist wie Embryonalphase - vakuumverpackt, mit Nährstoffen versorgt und fernab jeglicher Anforderungen und Pflichten. Jedoch, einmal wieder an der Nabelschnur, reich an Herausforderungen. Eine der größeren ist es, ruhig zu bleiben, wenn ich telefoniere und meine Mutter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach einigen Minuten in der Tür stehen wird ...
Umgekehrt macht sie keinen Hehl aus den Gesprächen mit ihren Verehrern. Besonders wenn die Stimme am anderen Ende sie in ihren Einstellungen bestätigt. So zum Beispiel Hans, der gleich von beiden Kindern heimgesucht wurde. „Ja, ja, das ist bei uns genauso", höre ich meine Mutter sagen. „Überall liegen Sachen herum und Rücksicht wird auch keine genommen." Nun hat Hans noch das Problem, dass er sein Haus umgebaut hat, nachdem Kinder und Frau ausgezogen waren. Aus den Kinderzimmern ist eine großzügige Galerie in der ersten Etage geworden, von wo aus er auf den offenen Wohnraum herunterschauen kann. Alles für ihn allein, allenfalls für gelegentliche Besuche, dachte er.
Nun sind sie wieder da. Seine Tochter, die sich von ihrem Freund getrennt hat und deshalb nicht länger in Italien bleiben wollte, zurück in Deutschland aber keinen adäquaten Job finden konnte. Und die alternde Dogge, die sie nicht bei ihrem abgelegten Lebensabschnittsgefährten zurücklassen wollte. Auch Hans' Sohn weiß nach gescheiterter Ehe die Vorzüge seines einstigen Zuhauses zu schätzen. Als die Firma auch noch Stellen abbaut, gibt es nur eins: zurück zu Papa. Und den Plan, mit dem alten Herrn sein eigenes Business aufzubauen, schließlich hat er ja das Know-how aus vier Jahrzehnten als Einkäufer. In seinem einst unbeschwerten Rentnerdasein hatte Hans sich nicht träumen lassen, je wieder arbeiten zu müssen.
Auch seine beiden Enkelkinder sieht er nun wieder regelmäßig. Wozu rausgehen, sagt sich der Sohn? Der Garten bietet genug Platz zum Spielen. Doch Hans bangt um die japanische Anlage, deren Gestaltung er sich nach seinem Rückzug aus der Modebranche ausgiebig gewidmet hat. Jetzt kommt er lieber zu uns. Da ist es ruhiger. Nur ein Kind. Und das meistens nicht zu Hause.
Eigentlich folgt der Embryonalphase ja die Abnabelung. Der Abnabelung das Erwachsenwerdens, samt Auszug. Was aber bei Wiedereinzug? Wir jedenfalls, meine Mutter und ich, sind zurück in der Pubertät. Während ich als Kind nie sonderlich aufmüpfig war (was meine Mutter natürlich vehement dementieren würde), bin ich nun willens, ihr jedes frühkindliche Versäumnis vorzuhalten, was zur derzeitigen Situation beigetragen haben könnte. Immer häufiger finde ich ausgedruckte Immobilienanzeigen auf meinem Bett. Die Straßen liebevoll markiert und unterschrieben mit „Grüße von Deiner Mama".
Ja, es stimmt. Ich wollte wieder „nach Hause" ziehen. Aber ich meinte damit: in die Großstadt, in die Nähe der alten Heimat. Einmal war es mir sogar gelungen. Ich hatte einen Zeitvertrag als leitende Redakteurin in NRW ergattert. Nur, leider, blieb mir damit keine Zeit, es meinen Schulfreunden gebührend mitzuteilen. Und dann war ich auch schon wieder weg, für die nächste Position in der nächsten Stadt.
„Der flexible Mensch" wechselt Beruf, Wohnort, soziale Stellung, Familie eben stets gemäß den wirtschaftlichen Anforderungen. Der globale Kapitalismus, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett ihn mit seinem gleichnamigen Buch bereits in den 90ern beschwor, ist in der deutschen Mittelschicht angekommen. Allein: Wer befriedigt das Bedürfnis nach Stabilität? Wohl deshalb auch suchen immer mehr 40somethings in Krisenzeiten zu Hause Zuflucht. Sie geben Halt, die heile Welt, die Provinz, das Kaff.
Das Telefon klingelt. Hans weiß nicht, wie er seiner Tochter beibringen soll, dass er ihre Dogge nicht mehr haben möchte. Seine Tochter ist mittlerweile ausgezogen. Aber nur in ein kleines Appartement, weil sie hofft, bald mit ihrem neuen Partner zusammenzuziehen. Der muss sich noch scheiden lassen. Auch ich beschließe, mir moralische Unterstützung zu holen. Ich rufe Sven an, den ich aus meinen Anfängen in Berlin kenne. Mobil natürlich, denn ich weiß nie, wo er sich gerade aufhält. Mittlerweile ist er ein mehr oder minder erfolgreicher Werber für Kult-Drinks, Toastbrot, Bauklötze ...
Nach dem Verlust seines größten Kunden aber ist Sven vor einigen Monaten von Hamburg in seine Heimatstadt Cuxhafen gezogen, erfahre ich. „Zurück ins Kinderzimmer, ins Dachgeschoss meiner Mutter." Schon in den vergangenen Jahren hatte er mir häufiger Fotos aus dem elterlichen Garten geschickt. Trainingshose (mit den drei Streifen natürlich), Badeschlappen (farblich passend) und Oberkörper frei (New-Working-Man-Style), saß er an der rot karierten Gummitischdecke, mit Plastikkirschen beschwert.
Eigentlich wollte ich ja ein wenig jammern, als ich ihn anrief. Und mir das legendäre Fischbulettenrezept seiner Mutter aufschreiben. Doch dann verkündet er eine unerwartet freudige Nachricht: „Ich heirate demnächst." „Wo hast du sie denn kennengelernt?" „Im Garten nebenan." „Endlich", mag seine Mutter, bei der er sich nur allzu wohl gefühlt hatte, wohl denken: „Weggeheiratet!"
Das Kinderzimmer hat eben auch seinen Charme. Zwar stehen nicht mehr der Korbsessel und mein großsonnengeblümtes Bettsofa darin. Auch die Wände sind nicht mehr orangerot. Nur ein Schafsfell, das liegt noch vor meinem Bett. Allerdings nicht das alte weißwollene, sondern eine langhaarige, dunkle Heidschnucke aus Island, von der letzten Reise mitgebracht.
Kinderzimmer, das ist Poesiealbum. Meines ist aus Cord mit Millefleurs geblümt und darin stehen Weisheiten wie „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur". Kinderzimmer, das sind Dreiecke, Vierecke, Kreise, die sich zu Menschen, Häusern, Autos formen. Meine Kindergartenmappe liegt neben den Urkunden der Bundesjugendspiele und dem Seepferdchen-Abzeichen. Ich überlege, ob es cool sein könnte, es an meine neue Trainingsjacke zu nähen.
Wenn schon die Zukunft diffus ist, beruhigt es ungemein, die Vergangenheit zu ordnen. Ich fange an, meine Briefe zu bündeln. Rot für meinen ersten Freund. Gelb für meine beste Schulfreundin.
Heute kommt die Post elektronisch. Nathan von der letzten Pressereise hat mir gerade eine E-Mail geschrieben. Er will mich einladen, ich soll über seine Heimatstadt berichten, Vancouver, Cooking, Celebrities. Er hat ein Kochstudio für Fernsehshows in seinem Townhouse eingerichtet. „Immer noch back to Kinderzimmer?", fragt er mich. Und amüsiert sich: „Darling, if you can make it there, you can make it everywhere!"