"Wiener Zeitung": Sie vergleichen in Ihrer jüngsten Studie die Lebenseinkommen der 1935 Geborenen mit jenen der Babyboomer. Das Ergebnis: Die Ungleichheit zwischen den Einkommen hat sich um 85 Prozent erhöht. Woran liegt das?
Giacomo Corneo: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat es langfristige Veränderungen in der Weltwirtschaft gegeben. Zum einen den Zusammenbruch des Realsozialismus und zweitens das Eintreten Indiens und Chinas in den Weltmarkt. Das hat die relative Knappheit des Faktors Arbeit erheblich reduziert und den Arbeitsmarkt in den westlichen Ländern unter Druck gesetzt. Ein Nebeneffekt war die zunehmende Schwäche der Gewerkschaften. Gleichzeitig haben wir den Aufstieg des Finanzkapitalismus erlebt und ein Auseinanderdriften an der Spitze der Einkommensverteilung.
Bei einem Vortrag an der Wirtschaftsuniversität Wien sprachen Sie unlängst darüber, dass auch persönliche Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen.
Ja, nachdem sehr lange die materielle Sicherung im Mittelpunkt des Alltags stand, sind wir jetzt aufgrund des Wirtschaftswachstums in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der wir uns von diesen materiellen Zwängen befreien können. Ein Teil der Bevölkerung hat sich freiwillig entschlossen, sich anderen Dingen als dem Geldverdienen zu widmen, wie zum Beispiel mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen.
Keynes prophezeite in seinem Aufsatz "Economic Possibilities for our Grandchildren", dass sich nachfolgende Generationen hauptsächlich ihrem Vergnügen widmen können, während Computersysteme und Roboterarmeen die Arbeit erledigen. Eingetreten ist das Gegenteil. Was ist schiefgelaufen?
Die Sicht Keynes ist nicht vollkommen richtig. Einerseits können wir uns leisten, immer weniger zu arbeiten, weil wir immer weniger Zeit brauchen, um unsere Konsumgüter zu produzieren. Damit hatte er recht. Auf der anderen Seite verzichten wir auf eine zunehmend große Menge an zusätzlichen Konsumgütern, wenn wir eine Stunde mehr Freizeit erleben. Außerdem neigen Menschen dazu, darauf zu schauen, was der Nachbar hat. Niemand will schlechter dastehen als die Referenzgruppe. Das führt zu einem Hamsterrad-Effekt. Aus kollektiver Sicht wäre es natürlich besser, wenn alle ein bisschen verzichten, zum Beispiel um die Umwelt weniger zu verpesten. Aber aus individueller Sicht möchte niemand der Erste sein, der diesen Weg wählt. Es ist wie beim Gefangenen-Dilemma: Wir stecken in dieser Situation fest.
Ihre Studie, in der Sie Daten aus der deutschen Sozialversicherung ab 1935 auswerteten, ergab eine schockierende Zahl: Während bei den 1935 Geborenen nur etwa zwei Prozent Arbeitslosigkeit von mehr als einem Jahr erlebt hatten, sind es bei den Babyboomern bereits an die 30 Prozent.
Ja, und das hat zwei sehr problematische Folgen. Durch die Arbeitslosigkeit verringern sich die Verdienste, die Armutsgefahr steigt. Außerdem nimmt bei den Arbeitnehmern das Gefühl des Zusammenhalts ab. Die Langzeitarbeitslosen haben ganz einfach weniger Kontakt zur Arbeiterschaft. Das verringert die politische Durchsetzungskraft.
Ihre Studie endet in den Sechzigern und zeigt einen relativ klaren Kausalzusammenhang von Bildung und Einkommen. Trifft das für die jüngeren Generationen überhaupt noch zu - Stichwort wissenschaftliches Prekariat?
Zugang zu höherer Bildung ist immer noch ein wichtiges Instrument, langfristig wirtschaftliche Perspektiven zu sichern. In einigen Ländern - etwa den USA - ist die Bildungsrendite sogar gestiegen. In Deutschland sind die Zahlen aber nicht eindeutig, weil wir wirklich das von Ihnen erwähnte Phänomen haben. Was ich schlimm finde, ist, dass wir in Deutschland und auch in Österreich ein duales Schulsystem haben, mit vergleichsweise kurzen gemeinsamen Lernwegen und früher Trennung. Das zementiert die Spaltung. Das ist auch volkswirtschaftlich gesehen nicht sinnvoll, denn wir "verpassen" viele begabte Kinder bildungsferner Eltern. Das ist ein Egoismus-Problem der Mittelschicht. Sie möchte die privilegierten Startchancen für ihre Kinder nicht aufgeben. Das Schlimme daran: Je stärker die Ungleichheit in der Gesellschaft, desto weniger will die Mittelschicht auf diese Privilegien verzichten. Ein Teufelskreis.
Frühkindliche Bildung etwa durch Kindergärten ist in Österreich sehr teuer, während die Universitäten fast gratis sind.
Wenn wir von einem fixen Budget ausgehen, ist es wirklich sinnvoll, dieses umzuschichten. Von der tertiären hin zur primären beziehungsweise vorschulischen Bildung. Viele empirische Studien zeigen, dass diese eine enorme Bedeutung für die spätere Entwicklung hat. Vor allem die bessere Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher ist wichtig.
Ihre Studie konzentriert sich auf westdeutsche Männer. Wie hat sich die Ungleichheit für Frauen entwickelt?
Bei den Frauen finden wir eine ähnliche Entwicklung, das heißt, die älteren Kohorten waren weniger ungleich als die jüngeren. Aber die Struktur ist weniger klar als bei den Männern. Das liegt daran, dass die Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt einerseits stark zugenommen hat. Andererseits bilden die Frauen dort einen "Puffer": Je nach Konjunkturzyklus sind sie es eher, die sich vom Arbeitsmarkt zurückziehen.