Der Soziologe und Technikexperte Walter Peissl spricht darüber, wie Überwachung unser Verhalten nachhaltig verändert, wie Datenspeicherung für kommerzielle Zwecke verwendet wird - und warum die Österreicher mit diesen Problemen eher unbedarft umgehen.
"Wiener Zeitung": Herr Peissl, wie steht es um die Massenüberwachung in Österreich?
Walter Peissl: Österreich fügt sich ins Konzert aller europäischen und vieler nicht-europäischen Länder ein. Es gibt nur einen bemerkenswerten Ausreißer: Großbritannien, wo es eine noch stärkere Überwachungskultur gibt. Es ist wichtig zu sehen, dass es seit "9/11" permanent eine Verstärkung von Sicherheit als politischen Leitgedanken zulasten der Privatsphäre gibt. Al Kaida haben wir mittlerweile halt gegen IS ausgewechselt. Es gibt also permanent neue Bedrohungen von außen, denen man mit flächendeckender Überwachung beikommen zu können glaubt, was ich für einen Trugschluss halte.
Welche gesellschaftlichen Folgen hat das?
Die Kontrolle darüber, wer etwas von mir wissen soll oder darf, ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Wir brauchen Rückzugsmöglichkeiten, wo wir ganz wir selbst, also im philosophischen Sinne frei und autonom sind. Wenn ich aber weiß, dass ich überwacht werde, dann besteht die Gefahr, dass ich mich so verhalte, wie ich glaube, dass es von mir erwartet wird. Damit bin ich nicht mehr frei, bin nicht mehr ich selbst. Und das betrifft auch unser positives Verhalten. Es geht mir nicht darum, Überwachung zu unterbinden, damit negatives Verhalten möglich wird. Sondern es geht darum, Vielfalt leben zu können.
Und welche positiven Aspekte hat Überwachung?
Am Institut für Technikfolgenabschätzung arbeiten wir mit Formen von Bürgerbeteiligung. Nach einer Gruppendiskussion haben Teilnehmer gesagt, dass sie Überwachung zum ersten Mal auch als etwas Positives sehen können. Etwa in einer Intensivstation - dort kann Überwachung lebensrettend sein. Was ist Überwachung überhaupt? Es geht nicht um eine punktmäßige Kontrolle, sondern darum, über einen längeren Zeitraum Verhalten und Verhaltensänderungen zu beobachten und mit einer Normalsituation zu vergleichen. Wenn ich etwa auf der Autobahn hinter jemandem herfahre und aufzeichne, wie schnell er oder sie fährt, dann sagt mir das gar nichts. Erst wenn ich den Kontext dazu habe - welche Geschwindigkeitsbegrenzungen es gibt es, ob es geregnet hat etc. -, erst dann macht Überwachung Sinn.
Problematisch wird Überwachung also erst, wenn man sie mit gesellschaftlichen Werten oder Gesetzen kombiniert?
Genau, erst wenn es eine Defini- tion dessen gibt, was als normal gilt. Wer definiert das? Und was tun wir mit Abweichungen? Langfristig gibt es eine Entwicklung hin zur Gleichschaltung. Das ist für mich der interessanteste Aspekt von Überwachung. Bei Amazon kriege ich beispielsweise die immer gleichen Empfehlungen. Wenn ich aber in eine Buchhandlung gehe, um mir etwa einen Reiseführer zu kaufen, komme ich vielleicht an einem Tisch mit österreichischer Gegenwartsliteratur vorbei und habe die Chance, ein Buch zu finden, das ich zwar nicht gesucht habe, das für mich aber wichtig ist, weil es die Vielfalt in meinem Leben erweitert. Amazon empfiehlt mir höchstens einen Reiseführer von einem anderen Verlag. Den brauch ich aber nicht. Was also verlorenzugehen droht: Dass ich mich selbst um mein Leben kümmere. Denn andere sagen mir, was ich wo kaufen soll. Diese subtile Beeinflussung unseres Lebens und der Verlust von Vielfalt scheinen mir eine der größten gesellschaftlichen Probleme zu sein.
Inwiefern unterscheidet sich die personalisierte Werbung im Internet von den klassischen Postwurfsendungen?
Postwurfsendungen sind für alle gleich. Bei personalisierter Werbung bekomme ich Dinge angeboten, von denen angenommen werden kann, dass von den angesprochenen Menschen möglichst viele möglichst schnell kaufen werden. Viele sind sich dessen nicht bewusst, dass durch diese Art von Werbung ihr Verhalten gesteuert wird. Natürlich wird in erster Linie versucht, schnelle Profite zu machen. Das heißt, ich habe eine künstlich generierte Nachfrage und damit verbunden auch ein verringertes Angebot.
Nimmt uns das nicht die Möglichkeit, uns weiterzuentwickeln?
Wenn ein E-Book-Anbieter weiß, welche Absätze überblättert werden und man dann eine Rückmeldung an den Autor gibt, so etwas nicht mehr zu schreiben, dann hat kommerzielle Überwachung Auswirkungen auf die Kulturproduktion. Das zeigt, wie wichtig es ist, gesamtgesellschaftliche Auswirkungen von Überwachung zu verstehen. Was passiert mit uns als Gesellschaft? Entwicklung, Veränderung kann nur durch Abweichung entstehen. Wenn ich immer nur das Gleiche mache, passiert nichts Neues. Überwachung macht das Abweichen schwerer.
Was ist von "smarter" Videoüberwachung zu halten, die abweichendes Verhalten automatisch erkennt?
Es ist wichtig, das auch positiv zu sehen. Ich kann eine Videoüberwachungsanlage auch so gestalten, dass ich merke, dass jemand, der gehen oder stehen sollte, plötzlich am Boden liegt. Zum Beispiel in einer giftigen Chemieanlage, wo man sich eigentlich nicht länger als zwanzig Minuten aufhalten darf. Wenn sich die Person dort den Knöchel gebrochen hat, ist es gut und ihr kann geholfen werden. Man braucht in dem Chemielabor aber nicht zu wissen, wie der Mensch aussieht oder wer er ist. Da reicht es zu sehen, dass ein Mensch am Boden liegt und Hilfe braucht. Man spricht auch von Privacy by Design (in etwa: geplante Privatsphäre, Anm.). Wenn es Situationen gibt, in denen Überwachung wirklich einen Sicherheitsgewinn bedeutet, dann so, dass sie am wenigsten aufdringlich ist. Wir können Technik, organisatorische Rahmen und Gesetze durchaus so gestalten, dass sie die Privatsphäre nicht beeinträchtigen und damit auch keine negativen Auswirkungen haben.
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