Der Thanatologe über gute und schlechte Bestatter, den Umgang mit
Trauernden, den Mythos vom Leichengift - und was uns Corona alles zeigt.
"Wiener Zeitung": Im Erste-Hilfe-Kurs lernt man Leben retten. Was lernt man in einem "Letzte Hilfe Kurs?"
Martin Prein: Mir geht es um eine Hilfestellung für Betroffene, die oft gar keine Selbstbestimmung mehr haben. Und ich will denen helfen, die mit den Hinterbliebenen zu tun haben und oft gar nicht wissen, was sie sagen sollen. Mein Seminar "Der Letzte Hilfe Kurs" hieß ursprünglich "An der Seite der Toten" und war eigentlich für Berufskräfte gedacht, die mit Toten zu tun haben. Dann haben immer mehr Teilnehmer gesagt: Das geht eigentlich alle etwas an - das sollten alle hören.
Was meinen Sie mit Selbstbestimmung?Ich mache das seit 15 Jahren und habe viele haarsträubende Geschichten gehört. Vor kurzem habe ich mit einem Mann geredet, der seine zehnjährige Tochter durch einen Autounfall verloren hat. Er wollte sie noch ein letztes Mal sehen. Aber der Bestatter hat gesagt: "Sie ist komplett zugerichtet, da kann man nichts machen."
Natürlich wollen manche den Verstorbenen lieber so in Erinnerung behalten, wie er war. Aber Hinterbliebene sollten immer dazu eingeladen werden, ihn oder sie noch einmal zu sehen und sich leiblich zu verabschieden. Sie müssen wissen, dass sie das Recht dazu haben. Die Betroffenen sind oft in so einer Ausnahmesituation, dass sie nicht einmal auf die Idee kommen. Deshalb brauchen sie ein "Hilfs-Ich". Wenn der Mann unserer Freundin stirbt, können wir als Freund sagen: "Wenn du den Karl noch einmal sehen willst, dann ruf an!" Ich treffe leider viel zu viele Menschen, die es sehr bedauern, dass sie einen geliebten Menschen nicht mehr sehen konnten. Es regt mich auf, wenn mit Betroffenen umgegangen wird, als seien sie kleine, unmündige Kinder.
Woran liegt das?
Früher gab es in Österreich diese ungute Gebietsschutzgeschichte: Es gab nur einen Bestatter und alle mussten zu ihm. Der musste sich also nichts pfeifen! In Deutschland war das zum Beispiel anders und darum ist auch das Berufsverständnis dort ein anderes.
© Luiza PuiuNatürlich gibt es auch bei uns viele tolle und einfühlsame Bestatter. Aber es darf nicht dem Zufall überlassen sein, auf wen ein Hinterbliebener trifft! Wenn ich zu einem Arzt oder Tischler gehe, erwarte ich eine Dienstleistung, beim Bestatter sollte das genauso sein. Denn alles, was in den Tagen nach einem Todesfall passiert, ist unwiederbringlich vorbei.
Was braucht jemand, der gerade einen geliebten Menschen verloren hat?
Er oder sie braucht einen Menschen, der ihn so aushält, wie er gerade ist: die Sprachlosigkeit, die Ohnmacht, die Wut oder die Schuldgefühle - ohne es ihm ausreden zu wollen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, das Leid der Hinterbliebenen werde vom Umfeld oft "relativiert und negiert".
Oft heißt es: "Wird schon wieder, das Leben geht weiter!" Der Pro-blemlösedruck ist hoch, man möchte etwas Gescheites sagen, aber den perfekten Satz gibt es nicht. Trauernde zermürbt das: Sie leiden und sollen jetzt auch noch Verständnis für die blöden Sprüche haben. Ich höre viele absolut geschmacklose Kommentare, die sich Hinterbliebene anhören müssen. Das sind zum Teil verbale Angriffe, die durchaus aggressives Potenzial haben.
Woran liegt das?
Weil die Trauernden uns mit der Sterblichkeit konfrontieren. Sie sind wie der Leichnam der Körper gewordene Tod. Da geht es auch um eine schnelle Distanzierung. Wir leben ja in einer Blase und meinen oft, wenn wir nur aufpassen und uns gesund ernähren, werden wir schon alt werden. Gerade bei plötzlichen Todesfällen bekommt diese Illusion Risse. Der Tod macht uns hilflos, weil er eine narzisstische Kränkung darstellt. Deshalb müssen Trauernde in manchen Kulturen einen anderen Namen annehmen oder sie werden für eine Zeitlang weggesperrt.
Woher kommt das Leichentabu und welche Folgen hat es?
Das ist mein Steckenpferd. Wenn man sich die christliche Kultur anschaut, haben wir ja schon eine gewisse Leibfeindlichkeit - und die schließt den Leichnam mit ein. Aber das Leichentabu ist in allen Kulturen zu finden. Wir denken oft, Naturvölker würden natürlicher mit dem Tod umgehen, dabei herrschen bei ihnen oft viele Tabus rund um den Tod. Das Wort Tabu hat Captain Cook aus der Südsee mitgebracht, weil es bei den Völkern dort bestimmte strenge Verbote gab. Es gibt zwar auch heute noch Kulturen, die bei Begräbnissen tanzen und singen - aber nur aus dem Grund, Bedrohungen durch den toten Körper abzuwenden.
Oder denken wir an das Allerheiligste in der katholischen Kirche, die Monstranz: Die darf auch nicht jeder angreifen. Man darf sie nicht einmal jederzeit anschauen. Dieser Gott ist barmherzig und gut, aber wehe, es ist was - dann scheppert's! Das Numinose und alles, was uns nicht fassbar oder außerweltlich erscheint, ist ambivalent.
Als ich als Bestatter angefangen habe, gab es ein Krankenhaus, in dem man den Leichen im Keller eine Patientenglocke in die Hand gegeben hat. Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Portier in diesem Krankenhaus und hätten Nachtschicht. Plötzlich läutet es. Würden Sie runtergehen und nachschauen? Ich glaube, die meisten würden sich das nicht trauen.
Sie schreiben über eine Frau, die ihren kranken Mann zu Hause pflegt, bis er stirbt. Der Hausarzt sagt ihr am Ende, sie dürfe ihn ein letztes Mal waschen, aber sie müsse unbedingt Handschuhe tragen.
"Der Leichnam macht uns Angst. Was ist da gerade eingetreten? Rational können wir das nicht erfassen. Auch wenn wir wissen, dass unsere Liebsten einmal sterben werden, ist es etwas völlig anderes, wenn Vater,Mutter, Bruder oder Oma plötzlich tot vor uns liegen." - © Luiza PuiuDafür gibt es keinen medizinischen Grund. Ein "Leichengift" gibt es nicht, das ist ein Mythos. Es geht vermutlich eher um eine Art modernes Abwehrritual: Plastikhandschuhe und Desinfektionsmittel sind die passenden Objekte dazu. Der Leichnam macht uns Angst. Was ist da gerade eingetreten? Was genau ist plötzlich nicht mehr da? Rational können wir das nicht erfassen. Auch wenn wir wissen, dass unsere Liebsten einmal sterben werden, ist es etwas völlig anderes, wenn Vater, Mutter, Bruder oder Oma plötzlich tot vor uns liegen.
Als Bestatter haben Sie oft gehört: "Das ist nicht mehr er!" Was steckt dahinter?
Das ist das Leichenparadox: Das ist zwar er, aber irgendwie auch nicht mehr. Der Mensch liegt plötzlich stumm und blicklos vor uns. Das kann im ersten Moment befremdlich sein. Auch das Gesicht kann sich verändern. Die Muskulatur erschlafft wie sonst nie im Leben.
Überschätzen wir die Bedeutung des Körpers?
Ich denke eher, dass wir ihn unterschätzen. Wir sagen: Nein! Das ist noch lange nicht alles! Das ist nur eine Hülle! Aber vielleicht ist es genau das: Mehr sind wir nicht. Und das halten wir nicht aus. Mir ist völlig klar, warum weite Teile der Menschheit auf die Idee gekommen sind, es gäbe so etwas wie eine Seele. Weil es nämlich sonst unerträglich ist. Die Erfindung des Übernatürlichen war eine Großleistung und einer der Gründe, warum wir Menschen überhaupt so lange überleben konnten.
Auch als Atheist kann man die Vorstellung haben, dass von einem Menschen etwas bleibt, wenn sein Körper stirbt.
Trauer- und Begräbnisrituale sind wichtig . . . - © APA/HERBERT PFARRHOFERNaja, dieser Tote lebt vielleicht in den Menschen weiter, die ihn kannten, aber auch die gibt es irgendwann nicht mehr. Vollkommen klar, dass wir alle aussterben werden. Die Welt hat Milliarden Jahre ohne uns existiert - und es wird sie auch ohne uns geben. Die Kosmologie bestätigt diese Sichtweise. Friedrich Nietzsche hat einmal treffend gesagt: Wir waren da und wir werden wieder weg sein. Und wenn wir wieder weg sind, wird sich nichts begeben haben. Davon vermittelt uns der Leichnam einen Eindruck. Deshalb veranstalten wir so ein Brimborium. Trauer- und Begräbnisrituale sind wichtig. Aber es gibt die Tendenz, alles, was mit dem Tod zu tun hat, bildsprachlich weichzuzeichnen: mit Wölkchen, Herbstlaub, Engerln oder Teelichtern. Diese "Verteelichtung" des Todes kritisiere ich.
Sie waren Busfahrer, Sanitäter, Bestatter und arbeiten jetzt als Psychologe. Wie hat sich Ihr persönlicher Zugang über die Jahre verändert?
Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich bin. (Lacht.) Bei mir hat es eine massive Entzauberung der Weltbilder gegeben. Bis vor zehn Jahren war ich noch spiri-tuell, aber das ist vollkommen weg. Ich bin vor einiger Zeit selbst in eine Todesbedrohung gekommen - und das hat viel verändert.
Was haben Sie erlebt?
Ich hatte vermutlich einen Herzinfarkt inklusive Notarzt und Schockraum. Das hat lange Folgen gehabt. Ab da war mir klar: Wir müssen uns dieser nackten Tatsache stellen, dass da nichts ist.
Finden Sie das traurig?
Einerseits beneide ich manchmal gläubige Menschen. Andererseits finde ich es gut, weil ich glaube, dass wir in der Evolution diesen Aspekt, der uns lange auch vorangebracht hat, überwinden müssen. Weil wir sehen, dass der monotheistische Glaube auch viel Unruhe gebracht hat und immer noch bringt. Wir müssen dahinterkommen, dass wir ihn nur brauchen, um unsere tiefste Angst zu beruhigen.
Wenn wir uns gegenseitig in dieser Not sehen, könnten wir alles tun, um uns gegenseitig das Leben etwas leichter zu machen. Das meine ich nicht sozialromantisch, sondern ganz konkret: Wir haben nichts außer uns und dieser Zeit. Wir müssen schauen, dass es allen gut geht. Nichts darf darüberstehen - kein Gott und auch sonst nichts. Aber diese Erkenntnis wird wohl noch ein paar hunderttausend Jahre dauern. Dieses Thema beschäftigt mich sehr. Der Letzte-Hilfe-Kurs ist mein Broterwerb, aber dahinter treibt mich etwas ganz anderes an.
Als Jugendlicher hatten Sie Depressionen und Suizidgedanken. Welche Erkenntnis ist Ihnen geblieben?
Mit Freiwilligkeit hat ein Suizid gar nichts zu tun. Freitod ist ein viel zu euphemistischer Begriff. Selbstmordattentäter haben in Wahrheit riesige Angst vor dem Tod, weil sie es gar nicht anders aushalten, als in etwas Großem aufzugehen.
Wie kann man sich auf das eigene Sterben vorbereiten?
Das weiß ich nicht. Wie kann man sich auf etwas vorbereiten, wenn man nicht weiß, was passieren wird? Für die Angehörigen ist es angenehm, wenn alles geregelt ist. Aber auch wenn jemand alle Vorkehrungen trifft und sich mit den Formalitäten befasst, heißt das noch lange nicht, dass er sich mit dem Tod auseinandersetzt.
Was hieße das für Sie?
Die Angst kennenlernen. Nur kennenlernen! Nicht überwinden! Ich befasse mich jetzt seit fünfzehn Jahren intensiv mit dem Tod - und ich kann ihnen sagen: Das ist nicht immer gut. Deshalb nervt es mich, dass es immer heißt: Wir dürfen als Gesellschaft den Tod nicht verdrängen, wir müssen uns diesem Tabu stellen. Es ist unmöglich, den Tod nicht zu verdrängen! Wir würden keine 24 Stunden aushalten.
Warum?
Viele Leserinnen und Leser werden Panikattacken kennen. Und da bekommt man einen ganz kleinen Eindruck, wie es ist, wenn die Betonschicht über dieser tiefen Todesangst plötzlich ganz haarfeine Risse kriegt. Oder wenn man einen verdächtigen Knoten entdeckt und auf die Diagnose des Arztes warten muss. Es heißt immer: Befasse dich mit dieser Angst, besiege sie und dann kannst du friedlich und gelassen gehen. Ich glaube: Das geht nicht. Es ist zu schwierig, zu tiefschichtig. Manchmal wird es einem plötzlich - vielleicht kurz vor dem Einschlafen - ganz deutlich gewahr: Ich werde einmal sterben, ich werde einmal ausgelöscht sein. Aber das ist etwas ganz anderes, als wenn jemand so lapidar sagt: Ich habe keine Angst vor dem Tod. Und es ist auch völlig natürlich, dass wir uns gegen den Tod wehren. Kranke sollen immer positiv denken und man sagt ihnen dauernd: Glaub an dich! Sei stark! Wenn sich die Krankheit als unheilbar herausstellt und der Kranke sich gegen den Tod wehrt und nicht aufgeben will, heißt es plötzlich: Du musst loslassen! Warum sollte er?
Was verrät uns Corona über unser Verhältnis zur Vergänglichkeit?
Wir meinen, wir könnten alles haben und alles kontrollieren. Der Tod führt uns vor Augen, dass das eine Illusion ist. Corona ist dafür ein gutes Beispiel. Das Virus zeigt uns unsere Kreatürlichkeit: Wir sind völlig hilflos in diese Natur hineingeworfen. Es ist lächerlich zu denken, der Mensch beherrsche die Natur. Und dann kommt so ein kleines Kugerl und macht uns völlig fertig. Trotz technischem Fortschritt reagieren wir mit ganz einfachen, hunderttausend Jahre alten Reflexen: Angst, Flucht, Suche nach Schutz.
Was machen wir erst, wenn ein noch viel gefährlicheres, tödlicheres Virus kommt? Dann brauchen wir keine Kassiererinnen mehr beklatschen, denn dann sitzt dort niemand mehr. Aber wir sehen auch: Die Bewirtschaftung menschlicher Ängste ist die Quelle höchster Macht. Corona zeigt uns vieles.
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