Die Politologin Ulrike Guérot spricht darüber, wie sie die Europäer wieder für ein gemeinsames politisches Projekt begeistern möchte.
"Wiener Zeitung": Euroskeptizismus, Demokratiedefizit, Damokles-Schwert Brexit - die EU ist nicht erst seit gestern in der Krise. Wo bleibt der Plan B?
Ulrike Guérot: Der ist im Kommen. Wir merken, dass diese EU, wie wir sie konzipiert haben - als Vereinigte Staaten von Europa - nicht mehr funktioniert. Weder als Narrativ, noch institutionell, noch politisch. Der Ruf nach einem anderen Europa ist ziemlich neu, vielleicht zwei Jahre alt. Erinnern wir uns, dass sich bis vor kurzem jede Diskussion über die EU um die Fragen drehte: Wollen wir mehr oder weniger Europa? Austritt oder Vertiefung? Aber die Frage nach einem anderen Europa gab es nicht. Erst mal braucht es die Bereitschaft des EU-Systems, einzugestehen, dass die Union erschöpft ist und dass wir wirklich ganz neu nachdenken müssen.
Ist von den Regierungschefs, die durch den EU-Rat eine dominierende Rolle spielen, wirklich zu erwarten, dass sie die derzeitige EU als gescheitert deklarieren?
Das System gehört auf den Prüfstein. Das heißt auch, Fehler einzugestehen. Dazu sind die aktuellen Politiker nicht in der Lage oder wollen es nicht. Das gilt auch für die meisten EU-Parlamentarier, die Leute von der Kommission und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Deshalb liegt es zurzeit bei den politischen Rändern, Fehler aufzuzeigen. Ein konkretes Beispiel: Alle sind unzufrieden mit "Juncker-Lex". Wir haben hier ein System, das keine öffentlichen Güter produziert und wo im großen Stil Steuern hinterzogen werden. Dazu sollte es im Europäischen Parlament einen Untersuchungsausschuss geben. Eigentlich normales Procedere. Aber weil der Antrag von den rechten Populisten kam, hat ihm keine der etablierten Parteien zugestimmt. Es wird also keinen Untersuchungsausschuss geben. Das heißt, das Gute zu wollen, wird von den politischen Klassen der Mitte nicht mehr mitgetragen, weil es ihnen peinlich ist.
Die Wähler strafen die politische Mitte ab, jüngstes Beispiel ist die Präsidentschaftswahl in Österreich.
Ja, das alte Rechts-Links-Schema existiert nicht mehr. Das liegt daran, dass wir in den meisten Ländern Koalitionsregierungen und eine politische Mitte haben, wo sich Mitte-Links und Mitte-Rechts nicht mehr unterscheiden lassen. Das Problem ist, dass wir in Europa nie Links und Rechts hatten, sondern eine Trilogie aus Rat, Parlament und Kommission. Also eine institutionelle Logik, keine politische. Das Europäische Parlament müsste den Rat überstimmen, kann das aber nur mit Zweidrittel-Mehrheit, weswegen die großen Parteien dort permanent wie eine große Koalition abstimmen müssen, um überhaupt Gewicht zu haben. Das Politische hat in der EU also eigentlich nie stattgefunden. Der Widerstand gegen TTIP oder die Anti-Flüchtlings-Haltung sind eigentlich beides Rufe nach einer Rückkehr der Politikgestaltung.
Gilt das nur für die EU?
Nein, das erleben wir auch national. Der Graben besteht nicht zwischen Rechts und Links, sondern zum Beispiel zwischen Stadt und Land. Wenn Sie heute in Europa auf dem Land leben, haben Sie eine hohe Wahrscheinlichkeit, Globalisierungsverlierer zu sein, arbeitslos zu sein und populistisch zu wählen. Der Winzer wählt genauso FPÖ wie der Arbeiter, dem gerade die letzte Fabrik geschlossen wurde. Das System spaltet sich also in Globalisierungsverlierer und -gewinner. Dasselbe gilt für die USA. Auch Donald Trump hat eine Schließungs-Agenda und fordert "Geld und Jobs für die amerikanischen Arbeiter". Das alles hat mit einer Überforderung durch die neoliberale Agenda zu tun. Es geht also gar nicht um Europa an sich. Diese EU, die sozusagen über den Binnenmarkt und den Euro in unsere Wohnzimmer marschiert ist, ist eben kein politisches Projekt und konnte deshalb die Übergriffigkeit des Neoliberalismus staatlich nicht ausbalancieren. Wir haben im Maastrichter Vertrag einen Binnenmarkt und eine Währung geschaffen, ohne sie in eine Demokratie eingebettet zu haben. Wir haben Wirtschaftspolitik, Binnenmarktpolitik und Währungspolitik auf EU-Ebene und Sozialstaatlichkeit und Redistribution auf nationalstaatlicher Ebene. Wir haben Markt und Staat entkoppelt - das kann nicht funktionieren.
In Ihrem gerade erschienenen Buch träumen Sie deshalb von einer "europäischen Republik". Wie soll die konkret aussehen?
Vor vier Jahren habe ich aus einer Weinlaune heraus Postkarten drucken lassen mit der Aufschrift: "The European Republic is under construction" (Die Europäische Republik befindet sich im Bau). Anlass war der Zypern-Bailout. Mir war klar, dass hier gerade das ganze System vergewaltigt wird. Mit diesen Postkarten bin ich durch ganz Europa getrampt und habe sie in Cafés verteilt. Es hat mich überrascht, dass die meisten Leute eine positive emotionale Reaktion hatten. Mir ist klar geworden: Wenn wir in Europa ein politisches Projekt starten wollen, für das wir die Bürger auch emotional begeistern, müssen wir die Wortwahl verändern. Denken wir an "Republik Österreich" oder "République Française". Offenbar hat der Begriff Republik einen Resonanzboden, der für Bürger ganz intuitiv verständlich ist. Ganz egal, ob sie Ahnung haben von politischer Theorie.
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