Der Politologe Claus Leggewie über die rechte Rache an den 68ern und den Engagement-Stau der Bürger.
"Wiener Zeitung": Sie bezeichnen sich selbst als späten 68er. Was ist geblieben und wo hat Ihre Generation versagt?
Claus Leggewie: Auf ganzer Linie. Nein, im Ernst: Sie ist eher glücklich gescheitert. Und zwar an den Maximalzielen einer sozialistischen Revolution, die von den meisten 68er-Akteuren ohnehin als anachronistisch und überzogen angesehen wurde. Aber glücklich gescheitert ist sie, weil der Aufbruch dieser Generation viele unerwartete Effekte hatte, die für die Liberalisierung, die Modernisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaften gesorgt haben.
Zum Beispiel?
In Deutschland kam eine sozialliberale Koalition an die Macht, die vieles in moderater Form in staatliches und gesetzgeberisches Handeln umgesetzt hat. Aber vor allem hat sich das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen positiv verändert, und Europa ist weltoffener, auch ökologisch bewusster geworden.
Erleben wir zurzeit einen Rückfall?
Ja, der Rückschlag, den Rechtspopulisten weltweit veranstalten, ist eine Revanche, eine Rache an dieser kulturellen Revolution. Das sagen Trump, Le Pen, Strache und Konsorten ausdrücklich. Was wir jetzt erleben, ist die Wiederkehr eines autoritären Charakters, eines identitären Nationalismus. Das geht weit über die populistische Aufmischung eines Parteiensystems hinaus. Da ist eine echte, sehr ernstzunehmende Gegenrevolution im Gange, die man mit den Effekten von 1968 vergleichen könnte, wenn sie denn gelingen würde. Was wir hoffentlich nicht zulassen werden. Außer Ressentiment und Dekadenzfantasie hat die Rechte zur Lösung der Gegenwartsprobleme und Zukunftsaufgaben so gut wie nichts zu bieten.
"Mut statt Wut - Aufbruch in eine neue Demokratie" heißt eines ihrer Bücher. Wo bleibt der Mut?
Der Mut ist schon noch da! Selbst wenn ein Drittel Hofer wählt, tun das zwei Drittel nicht. In Österreich ist der Vormarsch der Rechten schon länger im Gange. Deutschland hatte da eine kleine Lebensversicherung, weil die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein Tabu gegen rechte Parteien aufgebaut hatte. Aber dieses Kapital könnte jetzt aufgezehrt sein. Wir müssen deshalb unsere Erzählung selbstbewusst stärker machen.
Woher kommt heute die Wut?
Es gibt in unserer Gesellschaft frei flottierende Ungerechtigkeitsgefühle, die ja einen realen Kern haben. Die geleakten Panama Papers haben noch einmal unterstrichen, in welch schamloser Weise sich Finanzkapitalisten bereichern. Vorstandsvorsitzende, die offensichtlich versagt haben, kassieren irrsinnige Boni. Wenn man das dann vergleicht mit dem kläglichen Gehalt von Pflege- oder Reinigungspersonal, dann wird jedem klar, dass hier eine riesige Gerechtigkeitslücke klafft.
Der rechte Nationalismus reagiert - ähnlich wie in den 1920er und 1930er Jahren - auf diese Ungerechtigkeit. Er richtet sich aber nicht gegen die Verursacher und Nutznießer der Ungleichheit, sondern gegen die politische Elite, die angeblich unfähig ist und gegen die Presse, die angeblich die Unwahrheit sagt. Außerdem war die Ablenkung sozialer Konflikte auf Minderheiten und "Fremde" immer schon ein probates Mittel der Rechten. FPÖ und die deutsche AfD verbreiten nichts als schlechte Laune und Häme.
Wieso wurden die Panama Papers vom Rest des politischen Spektrums nicht stärker genutzt?
Das wundert mich auch. Beim Gerechtigkeitskongress der SPD, der vor einer Woche in Berlin stattgefunden hat, habe ich das deutlich gesagt. Ich verstehe nicht, dass eine Partei, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt, das kaum zur Kenntnis nimmt, es nicht groß kommentiert oder von mir aus auch linkspopulistisch nutzt. Die europäischen Sozialdemokraten sind lange dem neoliberalen Zeitgeist hinterhergelaufen. Die Deregulierungen des Finanzmarkts sind ja von der britischen Labour Party, SPD und SPÖ ermöglicht und teils sogar verschärft worden. Hier muss eine Wende rückwärts passieren, aber gekoppelt mit neuen Inhalten.
Welche neuen Inhalte meinen Sie?
Dekarbonisierung, also radikale Reduktion schädlicher Emissionen, plus soziale Gerechtigkeit. Die Folgen des Klimawandels und die Energiewende sind keine grünen Spezial-Anliegen, sondern das Scharnier-Thema unserer Zeit. Wer die Nachhaltigkeitsziele nicht als tatsächliche Revolution unserer Lebensverhältnisse weltweit begreift, der hat bald gar nichts mehr zu sagen. Das gilt übrigens auch für konservative und viele grüne Parteien. Alle müssen erkennen, dass hier die soziale Innovation und das unternehmerische Potenzial liegt, nicht in Kohle, Öl, Atomkraft. Und auch nicht in diesel- und benzingetriebenen Fahrzeugen für den Individualverkehr. Das ist ein kultureller Wandel, der Jüngere und künftige Generationen begeistern kann.
Dass das Ungerechtigkeitsthema so stiefmütterlich behandelt wird, ist ein programmatisches Defizit und ein strukturelles Problem heutiger Volksparteien.
Was müsste sich an der Struktur ändern?
Sie müssen sich öffnen, parteilose Aktivbürger inkludieren, Plattformen schaffen. Es gibt in der Bevölkerung einen starken Wunsch nach Partizipation, einen regelrechten Engagement-Stau von Aktivbürgern. Die SPD beispielsweise hat es nicht geschafft, aufzugreifen, was im ehrenamtlichen Engagement und im lokalen Wissen steckt.
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