Der Kinderarzt und Evolutionsforscher Herbert Renz-Polster spricht darüber, dass Kinder mit einem uralten Betriebssystem auf die Welt kommen - und plädiert für eine bedürfnisorientierte Erziehung.
"Wiener Zeitung": Theorie und Praxis sind ja oft zwei paar Schuhe. Sie sind Kinderarzt und haben viele Ratgeber zu Gesundheit und Entwicklung geschrieben, sind aber auch selbst Vater von vier Kindern. Was war Ihre wichtigste Lektion?
Herbert Renz-Polster: Wenn die Eltern in ihren eigenen Beziehungen in Not geraten, hat das Folgen für die Kinder. Das Kind ist das schwächste Glied in der Familie und wenn es irgendwie auffällig ist und wir uns sorgen, dann ist das meistens ein guter Hinweis, dass das Familiensystem auf Sparflamme läuft. Wenn Kinder Probleme haben, sind es meistens Probleme der Eltern. Wenn man sich selbst weiterentwickelt, kann man wieder neue Beziehungen schaffen und seinen Kindern begegnen.
Sie schreiben, Kinder seien "Born to be wild" und sprechen von "artgerechter Erziehung" und "evolutionärem Gepäck". Was genau meinen Sie damit?
Wir haben oft die Vorstellung, dass Erziehung Kinder vor allem auf die Zukunft vorbereiten soll. Aber in Wirklichkeit haben Kinder schon eine lange Geschichte. In unserer Menschheitsgeschichte mussten sie mit den immer gleichen Herausforderungen zurechtkommen. Sie mussten immer schon Strategien entwickeln, wie man erfolgreich groß wird. Die Kinder kommen mit einem uralten Betriebssystem auf die Welt - und das hat sich in den Jahrhunderttausenden der Menschheitsgeschichte bewährt. Es ist zum Beispiel nicht verwunderlich, dass Kleinkinder Gemüse verschmähen. Dahinter steckt ein uralter Schutzmechanismus. Hätten sich ihre kleinen Vorfahren wahllos Grünzeug in den Mund gesteckt, wären sie gestorben. Auch dass Kinder nicht alleine einschlafen wollen, war früher nicht weniger als eine Lebensversicherung. Abseits der Sicherheit des Familienklans zu schlafen, hätte den Tod bedeutet.
Aber diese Klans gibt es nicht mehr. Vor allem alleinerziehende Eltern, die vielleicht isoliert in einer kleinen Wohnung leben, fühlen sich oft auf sich alleine gestellt und überfordert. Erhöhen Sie nicht den Druck auf Mütter und Väter?
Wir Menschen haben den im Vergleich zeitintensivsten Nachwuchs im Tierreich. Unsere Kinder werden extrem unreif geboren. Ein Fohlen wird geboren, steht auf und läuft. Unser Nachwuchs braucht dazu zwölf bis achtzehn Monate. In dieser Zeit müssen wir liefern, liefern, liefern. Im Tierreich werden die Kinder geboren und erst, wenn diese Kinder selbstständig sind, kommt das nächste. Bei uns dagegen ist das erste noch nicht aus dem Gröbsten raus, da kommt oft schon das zweite Kind. Dieses Programm ist alleine nicht zu schaffen. Das geht einfach nicht.
Sie propagieren also einen längeren Alters-Abstand zwischen Geschwistern?
Der von der Natur kalibrierte Altersabstand sind drei bis vier Jahre. Aber eine genaue Empfehlung abzugeben ist schwierig. Wenn jemand viele Ressourcen hat und ein zweites Kind in den Lebensplan hineinpasst, ist es okay. Aber je enger Kinder aufeinander folgen, desto eher brauchen sie noch die gleichen Ressourcen. Die ziehen an den gleichen Strängen - und das ist anstrengend. Oft heißt es: "Die spielen miteinander" - aber so easy ist das alles nicht.
Wie reagieren Sie auf Skeptiker, die eine härtere Gangart in der Erziehung fordern und Techniken wie das umstrittene "Schreien lassen"? Oft hört man das Argument: "Mir hat's doch auch nicht geschadet."
Das sagen auch Menschen, die geschlagen wurden. Im Grunde geht es überhaupt nicht um das Ergebnis. Es lässt sich wissenschaftlich kaum belegen, dass Kinder, die im Familienbett schlafen, gestillt werden etc., später glücklicher oder erfolgreicher sind. Es geht auch nicht um einen Korb, in den man alle Zutaten einer liebevollen Erziehung hineingibt, und dann kommt ein tolles Kind heraus. Das ist dieses leistungsorientierte Denken, bei dem nur die Funk- tion des Menschen zählt. Es geht vielmehr darum, zu entscheiden, wie man selber leben will und wie man die Menschen in seiner Umgebung behandeln will. Wir nehmen das schreiende Kind nicht hoch, weil wir uns davon irgendwas in der Zukunft erhoffen, sondern weil wir uns jetzt, in diesem Moment, liebevoll um unser Kind kümmern möchten.
Zu ihrem Vortrag heute Abend sind Jungeltern mit ihren Säuglingen durchs eiskalte Wien gefahren, um von Ihnen zu hören, dass sie zu ihren Kindern liebevoll sein dürfen. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
(Lacht) Da bin ich ja nicht der Einzige. Der Erste, der in unserer jüngeren Geschichte die Eltern befreite und ihnen sagte, ihr dürft auch lieb zu euren Kindern sein, war Benjamin Spock (US-amerikanischer Psychiater und Kinderarzt, 1903-1998, Anm.). Der hat in den USA der Vierzigerjahre gesagt: Kinder sind Menschen - und ihr dürft sie liebhaben!
Das war damals revolutionär. Heute gibt es regelrechte Lager, wenn es um die richtige Erziehung geht.
Wir schwimmen, wenn es darum geht, die richtige Beziehungssprache zu finden. Wir haben unterschiedliche Vorstellungen - und das ist durchaus positiv. Lasst uns streiten! Je mehr wir diskutieren, desto besser. Wenn man einmal zurückschaut, gab es früher viel Konsens bei der Erziehung. Es gibt Untersuchungen, dass es etwa zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs einen Konsens von über achtzig Prozent darüber gab, wie Erziehung auszusehen hat. Das hat sie nicht davor bewahrt, den größten Unsinn zu machen.
Zum Original