Ein Streitgespräch über Großbritanniens Verhältnis zu Europa und das kommende Referendum.
Wien. Heute, Donnerstag, stehen, neben anderem, auch die Reformpläne von Großbritanniens Premier David Cameron auf der Agenda des EU-Gipfels. Schließlich hat sich Cameron dazu verpflichtet, vor 2017 ein Referendum über den Verbleib seines Landes in der EU abzuhalten. Vier Punkte sind aus Sicht der Briten zentral:
eine wettbewerbsfähigere, effizientere Union eine größere Rolle für die nationalen Parlamente sowie keine Verpflichtung auf eine "immer engere Union" keine Diskriminierung von Nicht-Euro-Mitgliedern durch die Gruppe der Eurozone ein vierjähriger Stopp von sozialstaatlichen Beihilfen für EU-Einwanderer nach Großbritannien.Darüber und das grundsätzliche Verhältnis zwischen London und Brüssel hat die "Wiener Zeitung" die britische Botschafterin Susan le Jeune d'Allegeershecque und Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, zum Streitgespräch geladen.
"Wiener Zeitung": Frau Botschafterin, verstehen Sie, dass die 27 EU-Partner Grenzen haben, wenn es darum geht, Kompromisse mit Großbritannien einzugehen?
Susan le Jeune d'Allegeershecque: Wir sind jetzt mitten in einem Verhandlungsprozess, alle Seiten müssen flexibel sein. Die britische Regierung stellt nicht einfach Forderungen, der Premierminister, der Schatzkanzler und der Außenminister reisen durch Europa und werben für ihren Standpunkt. Aber wir verstehen natürlich, dass einige der Punkte sich als schwierig erweisen - für manche Mitgliedstaaten wohl schwieriger als für andere.
Herr Schmidt, wie wichtig ist Großbritannien für die EU?
Paul Schmidt: Wenn man sich den internationalen Einfluss und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ansieht, dann ist es im Interesse aller, dass Großbritannien in der EU bleibt. Aber noch besser wäre es, wenn wir ein Vereinigtes Königreich in der EU hätten, dass sich stärker engagiert als derzeit. Reformideen sind immer willkommen, aber sie sollten schon auch mit der EU zu tun haben und nicht nur mit den eigenen nationalen Interessen. Wir sollten von der britischen Regierung erwarten können, nicht nur durch die nationale Brille zu blicken.
Europa braucht Reformen, da wird kaum einer widersprechen. Legt Großbritannien den Finger auf die wunden Punkte?
Schmidt: Cameron spricht davon, dass die britischen Forderungen "gesetzlich bindend und unwiderruflich" umgesetzt werden sollen. Aber in Wahrheit wäre eine Änderung der EU-Verträge sehr langwierig. Es ist verständlich, dass er sich gerade sehr auf die nationale Ebene konzentriert, aber vor dem Referendum kann er höchstens Absichtserklärungen bekommen, mehr nicht. Man sollte da außerdem sehr vorsichtig sein und nicht anfangen, sich die Rosinen herauszupicken. Die EU besteht aus 28 Staaten und wenn man beginnt, die Verträge neu zu verhandeln, dann werden auch andere Staaten eigene Interessen und Forderungen haben. Diese Büchse der Pandora sollten wir nicht öffnen, denn am Ende könnte die Union aussehen wie ein Schweizer Käse. Die Briten wünschen sich mehr Effizienz, aber je mehr Sonderrechte einzelne Staaten haben, umso ineffizienter wird die EU. Das ist ein Widerspruch in sich.
Die Strategie Camerons ist schwer nachzuvollziehen. Eigentlich wären Polen und andere osteuropäischen Staaten potenzielle Alliierte. Doch diese Verbündete verprellt der Premier mit seiner Forderung nach weniger Sozialleistungen für Einwanderer aus anderen EU-Staaten. Welche Logik steckt dahinter?
Le Jeune d'Allegeershecque: Dieses Thema bewegt die britische Öffentlichkeit am stärksten, darauf muss der Premier zwangsläufig Rücksicht nehmen, schließlich ist das Referendum eine innere Angelegenheit. Es geht nicht um eine Anti-Einwanderungshaltung, Großbritannien hat immer von Einwanderern profitiert. Aber wir wachsen so stark wie kein anderes europäisches Land, 2050 werden wir das bevölkerungsreichste Land der EU sein. Unser Sozialsystem ist kein Topf, in den man einzahlt und erst dann etwas herausbekommt; der Zugang ist quasi bedingungslos. Die Regierung hat die allgemeinen Sozialleistungen bereits reformiert und gekürzt, mehr ist hier kaum möglich, wenn wir nicht unsere Idee eines Wohlfahrtsstaats aufgeben wollen. Trotzdem darf das Sozialsystem nicht als Magnet funktionieren für Menschen, die es ausnutzen, was besonders problematisch ist, wenn sie nicht arbeiten. Wir wollen Einwanderung nicht stoppen, sehr wohl aber sie kontrollieren.
Wie? Der freie Personenverkehr ist ein Grundprinzip der EU.
Le Jeune d'Allegeershecque: Ich kann hier keine Details preisgeben, die Verhandlungen laufen, aber es gibt Spielraum für Lösungen. Das Thema ist komplex. Es geht eben nicht nur um einen Konsens der 28 EU-Staaten, sondern auch darum, die britische Öffentlichkeit zu überzeugen. Heuer beträgt die Nettozuwanderung 336.000 Menschen und viele Bürger haben das Gefühl, dass diese Einwanderer ihre Lage verschlechtern - auch wenn das nicht stimmen muss. Diesen Sorgen muss sich eine Regierung stellen. Der Premier ist also in einer schwierigen Situation. Aber wir glauben, dass es eine Lösung gibt. Leicht wird das aber nicht.
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