Seit dem Ukraine-Krieg interessieren sich mehr junge Menschen für eine Ausbildung bei der Bundeswehr. Was treibt sie an? Besuch in einem Assessment-Center der Truppe.
Der Vortrag des Soldaten dauert keine zehn Minuten, da erreicht er die aktuelle Weltpolitik. „Man sieht das ja in der Ukraine“, sagt der junge Mann in grüner Tarnuniform und reckt das Kinn. „In Krisenzeiten braucht man nicht unbedingt Bäcker oder Schlosser, man braucht Soldaten.“ Zu dienen, sagt er, heiße auch zu verteidigen. Mit allen Risiken, das müsse jedem klar sein.
Dann startet ein Video auf der großen Leinwand neben ihm. Es geht um zwei deutsche Soldaten, die bei einem Hubschrauber-Absturz in Mali verunglückt sind. Man sieht junge Männer, die über ihre gefallenen Kameraden sprechen, Seelsorger, die von ihrer Arbeit erzählen. Der Einspieler endet mit Soldaten, die einen Sarg auf ihren Schultern tragen.
Das Karrierecenter der Bundeswehr in München, vergangene Woche, kurz nach Mittag. Ein großer, hell erleuchteter Saal. Dem Soldaten gegenüber sitzt eine Gruppe junger Menschen an Einzeltischen, die meisten um die 20, Männer sind deutlich in der Überzahl. Die Bundeswehr hat sie zu einem zweitägigen Assessment eingeladen. Sie werden Vorträge hören, Soldaten Fragen stellen, sich probeweise in Einsatzfahrzeuge setzen. Die Bundeswehr wiederum wird ihre Gesundheit, psychische Verfassung und Überzeugung prüfen. Wird schauen, wer das ist, der da zu ihr will.
In der Öffentlichkeit gilt die Bundeswehr häufig als Problemtruppe. Die Wehrbeauftragte Eva Högl spricht in ihrem aktuellen Bericht von mangelnder Ausstattung und Kasernen in einem „desolaten“ Zustand. Und doch ist in den vergangenen Wochen, seit Ausbruch des Ukraine-Krieges, etwas in Bewegung geraten. Das Interesse an einer Ausbildung bei der Truppe wächst. Karriereberater berichten von einer gestiegenen Nachfrage, auch in Hotlines und Chats werde das Thema häufiger angefragt.
Was bringt junge Menschen dazu, sich gerade jetzt für einen Berufsweg zu entscheiden, der sie potenziell in einen Krieg führen kann? Und wie wählt die Bundeswehr aus, wen sie überhaupt nimmt?
25 Menschen sind an diesem Tag gekommen. In der zweiten Reihe sitzt ein junger Mann. Sven Witte*, 26, Anzughose, weißes Hemd. Als das Video zu Ende ist, fingert er sein Handy aus der Hosentasche. „Ich erwarte eine wichtige Mail“, sagt er.
Es brauchte zwei Anläufe, bis sich Witte bei der Bundeswehr bewarb. Das erste Mal dachte er darüber nach, als er 18 war. Er war mit der Realschule fertig, der Dienst in der Truppe reizte ihn schon: die Kameraden, das unterwegs sein. Aber dann bekam er ein Jobangebot als Versicherungsmakler. Das Gehalt war gut, man bot ihm einen Firmenwagen. Also wurde er Makler.
Es war der Ukraine-Krieg, der ihn wieder zum Nachdenken brachte. Am 10. März, einem Donnerstag, saß Witte in seinem Büro. Es war Mittag, er aß Pizza, im Hintergrund lief lautlos der Fernseher. Da sah er die Bilder aus Mariupol. Die bombardierte Geburtsklinik, die hochschwangere Frau, die man auf einer Trage aus den Trümmern trug. „Diese Skrupellosigkeit“, sagt er. „Das hat mich erschüttert.“
Ein Freund von ihm hatte kurz zuvor eine ukrainische Familie in seiner Zweitwohnung untergebracht. Zu elft leben sie jetzt in einer Dreizimmerwohnung. „Die Kinder hatten fünf Tage in einem U-Bahn Schacht ausgeharrt“, sagt Witte. „Die waren vollkommen verstört.“ Auch Witte wollte helfen. Erst überlegte er, mit seinem Auto Hilfsgüter an die Grenze zu fahren, entschied dann aber, das den professionellen Organisationen zu überlassen. Es musste einen anderen Weg geben, sich zu engagieren, dachte er. Etwa, in dem er hilft, Europa zu verteidigen. Als Soldat.
Als er seiner Familie von seinen Plänen erzählte, waren die Reaktionen gemischt.
Seine Mutter hatte Bedenken, wollte nicht, dass er sich bewirbt.
Sein Vater, selbst bei der Bundeswehr gewesen, sagte: Du wirst schon wissen, was du tust.
Seine Freundin, die bei der Bundespolizei arbeitet, hatte kein Problem damit.
Witte kommt aus einem 3.000-Einwohnerdorf bei Regensburg. Mit seinen 26 Jahren hat er einiges erreicht. Hat sich mit seiner Freundin ein Haus gebaut, führt als Co-Chef eine Firma mit zehn Mitarbeitern. Die Arbeit laufe gut, aber es sei auch viel. Bis zu 70 Stunden pro Woche. Früher habe er in der Junioren-Bundesliga Fußball gespielt, jetzt sitze er jeden Tag im Büro oder Auto, habe das Gefühl, körperlich abzubauen. „Das ist kein Leben mehr“, sagt er. Als Geschäftsmann schenke einem keiner was, sagt Witte. Er aber suche den Zusammenhalt. Und dann bemüht er ein Wort, das hier in München immer wieder fällt: Kameradschaft.
Uwe Zinsmeister ist Dienststellenleiter des Karrierecenters München und für den Bewerbungsprozess verantwortlich. „Die heutige Generation hat einerseits ständig Angst, etwas zu verpassen“, sagt er, „andererseits suchen sie nach einer sinnstiftenden Tätigkeit.“ Der Krieg in der Ukraine habe diesen Wunsch noch potenziert. Dabei spiele allerdings auch Angst eine Rolle, glaubt Zinsmeister. Weil der Krieg geographisch so nah ist. „Plötzlich wurde den Deutschen bewusst, dass sie nicht nur von Freunden umgeben sind.“
Die Gruppe hat sich inzwischen vor dem Gebäude versammelt. Die Bundeswehr hat dort schweres Geschütz aufgefahren, Militärfahrzeuge parken auf dem Gelände. Davor steht der Soldat, der eben den Vortrag gehalten hat. „Und“, sagt er an die Gruppe gewandt, „schon ne Ahnung, wo’s hingehen soll?“
„Zur IT“, sagt ein junger Mann mit schwarzem Haar.
Imre Lammert*, 18 Jahre.
Auch bei Lammert brauchte es zwei Anläufe, bis es ernst wurde mit ihm und der Bundeswehr. Beim ersten Mal war er 16, ging noch zur Realschule. Er fand eine Infobroschüre der Truppe in seiner Post. Die Aussicht, zu dienen, fand er spannend, hatte aber das Gefühl, noch nicht so weit zu sein. Die zweite Broschüre erreichte ihn dieses Jahr im Februar. 18 war er da. Eine schwierige Zeit: Die Schule war seit über einem Jahr vorbei, Lammert saß viel zu Hause, spielte Computerspiele, brachte sich mit Youtube-Tutorials das Programmieren bei. Er war nicht untätig, sagt er, und doch hatte er das Gefühl: Ihm fehlte Struktur.
Er komme aus schwierigen familiären Verhältnissen, erzählt Lammert. Zwischen den Eltern habe es oft Streit gegeben, der Vater, ein Amateur-Kickboxer, zog irgendwann aus. Wegen einer Ohrenerkrankung als Kleinkind, dauerte es, bis Lammert richtig sprechen lernte. Er kam zunächst auf eine Förderschule, hängte sich rein, schaffte es auf eine reguläre Grundschule. Diese Erfahrung habe ihn geprägt, sagt er. Fragt man ihn, warum er dienen will, sagt Lammert: „Um besser zu werden. Sportlich, geistig, aber auch als Mensch.“
„Die Bewerber kommen aus den unterschiedlichsten Gründen zur Bundeswehr“, sagt Dienststellenleiter Zinsmeister. Hellhörig werde man, wenn jemand zu sehr darauf dränge, ins Ausland zu gehen, es anscheinend nur ums Abenteuer gehe. Andererseits mache man den Bewerbern immer wieder deutlich, mit welchen Herausforderungen eine Karriere beim Bund verbunden sei. Vor allem im privaten Bereich: Distanz zur Familie, mögliche Gefahrenlagen, fehlender Komfort.
Der zweite Tag. 5:30 morgens.
Schritte hallen durch den langen Flur von Haus 20, in dem die Bewerber die Nacht untergebracht waren. Eine Frau mit lockigem Haar klopft kurz an jede Tür, öffnet sie einen Spalt, ruft „Guten Morgen!“ hinein. In den Zweibettzimmern verschlafene junge Männer und Frauen. Einige von ihnen gerade aufgewacht, andere schon geduscht und dabei, ihre Betten abzuziehen.
Während Imre Lammert seine Schlafklamotten in seinen schwarzen Rucksack stopft, schreitet Sven Witte im faltenfreien Hemd durch den Flur, über dem linken Arm die abgezogene Wäsche. „In Ordnung“ sei die Nacht gewesen, sagt er. Nach dem Abendessen habe er noch anderthalb Stunden telefoniert, geschäftlich. Aufgeregt wegen des Assessments sei er nicht. „Nicht mehr in meinem Alter“, sagt er.
Bei Imre Lammert klingt das anders. Er und sein 21-jähriger Zimmernachbar hätten noch bis 22 Uhr wachgelegen und geredet. Über sich, ihre Zukunft, über die anstehenden Prüfungen.
Die erste Station nach dem Frühstück ist die medizinische Untersuchung. Die Ärzte messen und wiegen den Körper der Bewerber, tasten ihn nach Auffälligkeiten ab, suchen im Urin nach Spuren von Drogen. Am Ende geben sie Noten, die angeben, für welche der 360 möglichen Tätigkeitsfelder bei der Bundeswehr jemand geeignet ist.
Lammert sitzt mit fünf anderen Kandidaten in einem kleinen, hell erleuchteten Warteraum. Den Rücken gegen die Stuhllehne gedrückt, er wippt mit dem rechten Bein. „Ich mach mir nicht so Sorgen“, sagt er. „Wird schon easy, vielleicht. Weiß nicht.“ Ganz überzeugt wirkt er nicht.
Als die zweite Broschüre bei ihm ankam, sei er zu dünn gewesen, erzählt er. 48 Kilogramm habe er gewogen. 50 sollten es bei seiner Körpergröße von 1,70 Metern mindestens sein, empfahl ihm die Karriereberaterin. Also begann er, sich die fehlenden Kilos anzutrainieren. Stand morgens um sechs auf, um zu joggen, stellte seine Ernährung um. Im Keller fand er Hanteln seines Vaters, begann, angeleitet von Youtube-Videos, zu pumpen. Inzwischen ist er bei 52. Er besteht.
Die nächste Station ist der sogenannte computerassistierte Test, kurz CAT. Die Bewerber sitzen in einem großen Raum an Vierer-Tischen, vor sich je ein Monitor. Sie müssen Fragen aus den Bereichen Mathe, Physik, Logik beantworten, aber auch kritische Fragen zur Geschichte Deutschlands, damit die Bundeswehr ein Gespür für ihre Überzeugungen bekommt.
Witte atmet mehrmals schwer aus. „Beschissen“ sei es gelaufen, wird er später sagen. Vor allem bei den Mathe-Aufgaben. „Ich bin zu lange aus der Schule raus. Sachen wie Wurzeln ziehen habe ich in meinem Berufsleben nie gebraucht.“
Der nächste Schritt ist das persönliche Gespräch. Ein Prüfungsoffizier und eine Psychologin befragen die Bewerber und Bewerberinnen zu ihrer Motivation. Wo liegen Stärken und Schwächen? Wo gibt es Ungereimtheiten im Lebenslauf? Ist er oder sie bereit, im Notfall auch zu schießen? Als Reporter darf man bei den Gesprächen zwar dabei sein, den Inhalt aber nicht nach außen tragen.
Der Schritt ist der wohl kritischste im gesamten Prozess. Alle Bewerberinnen und Bewerber, mit denen man an diesem Tag spricht, fühlen sich danach verunsichert. Kaum einer glaubt, es geschafft zu haben, auch Witte und Lammert nicht.
Wie viele andere Bereiche auch, hat die Bundeswehr mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen. Man geht von einem Personalbedarf von 20.000 neuen Rekrutinnen und Rekruten pro Jahr aus. Zuletzt erreichte man diesen Wert 2019, die vergangenen beiden Jahre, die Jahre der Pandemie, blieb man darunter. Die Wehrbeauftragte Eva Högl spricht in ihrem Bericht vor allem von personellen Herausforderungen bei der Marine, bei Pilotinnen und Piloten und der IT.
Von den 25 Kandidatinnen und Kandidaten, die zum Assessment nach München gekommen sind, werden am Ende einer an den medizinischen und drei an den persönlichen Anforderungen gescheitert sein, zwei brechen das Assessment vorzeitig ab. Heißt: 19 von 25 haben bestanden. Witte und Lammert sind dabei.
Er überlege, sich für zwei Jahre als IT-Soldat zu verpflichten, sagt Lammert, während er vor dem Raum in seine Jacke schlüpft. Das sei lange genug, um wirklich einen Einblick zu bekommen. Aber nicht zu lange, falls das doch nicht hinhaut mit ihm und der Bundeswehr.
Witte legt sich noch an diesem Tag fest. Eine Mitarbeiterin empfängt ihn in einem kleinen Büro, zur sogenannten Einplanung.
„Feldwebel wollen sie werden“, liest die Frau von ihrem Computer ab. „Truppendienst oder Fachdienst? Beim Fachdienst müssten Sie noch eine Ausbildung machen, beim Truppendienst nicht.“
„Truppendienst“, sagt Witte.
„Ich kann Ihnen zwei Stellen anbieten, eine in Thüringen, eine in der Region Bayerischer Wald.“
„Bayerischer Wald.“
„Die in Thüringen geht allerdings schon zum 1. Oktober los.“
„Dann die.“
Keine zehn Minuten dauert das Gespräch, das über seine Zukunft entscheidet. Dann druckt die Frau ein Dokument aus, Witte unterschreibt. Er ist jetzt Soldat, verpflichtet für 15 Jahre. Innerhalb der ersten sechs Monate kann er ohne Angabe von Gründen kündigen, danach müsste er einen Antrag stellen, ob der gewährt wird, hängt vom Einzelfall ab.
„Ein gutes Gefühl“, sagt Witte, als er draußen vor der Tür steht. „Ein sicherer Arbeitsplatz in unsicheren Zeiten.“ Die dreimonatige Grundausbildung wird er in Bayern absolvieren, danach zwischen Regensburg und Thüringen pendeln. Ob, wann und wo er ins Ausland geschickt wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand sagen.
Witte sagt, er glaubt, der Ukraine-Krieg werde dauern, das habe man ja an anderen Kriegen gesehen. Dass er als Soldat im Notfall auf Menschen schießen muss? „Ist mir bewusst“, sagt er. „Der Feind nimmt ja auch keine Rücksicht und schmeißt seine Waffe weg.“
Dann streckt er sich kurz. Es ist bereits Nachmittag, er ist müde, hatte noch kein Mittag. Er gehe jetzt mit einem Münchner Freund essen. Danach heißt es Telefonate führen: Freundin, Familie, den Geschäftspartnern mitteilen, dass er die Firma verlässt.
„So wirklich realisieren werde ich das alles erst heute Abend“, sagt er.
*Die Namen der Protagonisten wurden auf ihren Wunsch geändert. Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.