Die jüdische Chabad-Gemeinde hat Hunderte Frauen und Kinder aus der Ukraine nach Berlin geholt, darunter Kinder aus einem Waisenheim. Sie leben jetzt in einem Hotel in der Innenstadt.
Ein paar Tage, bevor Putins Armee in der Ukraine einmarschierte, legte Shushana* ein paar Sachen beiseite, sicherheitshalber: Zahnbürste und Zahnpasta, Medikamente, Kleidung, passend für alle Jahreszeiten. Die jüdische Gemeinde in ihrer Heimatstadt hatte in Chatgruppen eine Nachricht rumgeschickt: Wenn es wirklich zum Krieg kommen würde, hieß es, würde man versuchen, Menschen außer Landes zu bringen. "Eine reine Vorsichtsmaßnahme", sagt die 18-Jährige. Wirklich damit gerechnet habe man nicht.
Am Morgen des 24. Februar, einem Donnerstag, begann die russische Invasion. Am Freitag durchbrach die russische Armee die ukrainischen Verteidigungslinien bei Cherson, 200 Kilometer von Odessa entfernt. Am Samstag griffen sie Mykolajiw an, 130 Kilometer entfernt. Am Dienstag packte Shushana ihre Sachen in einen Koffer.
Am nächsten Tag, kurz nach sechs in der Früh, stieg sie mit ihrer zwölfjährigen Schwester in einen von mehreren Bussen. Sie brachten die beiden und 106 weitere Kinder knapp 1.700 Kilometer Richtung Westen, nach Berlin. Eine Stadt, von der Shushana nur gehört und gelesen hatte. Und von der niemand von ihnen weiß, ob sie für sie eine Zwischenstation sein wird oder eine neue Heimat.
Vor dem Holocaust beherbergte Odessa eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt. Dann töteten die Nationalsozialisten 100.000 jüdische Bewohner der Stadt. Vor dem Einmarsch von Putins Armee lebten noch 35.000 Juden in Odessa. Viele von ihnen sind in den vergangenen Tagen geflohen, nach Israel, Großbritannien, nach Deutschland.
Anderthalb Wochen nach ihrer Abfahrt sitzt Shushana im Foyer eines Hotels im Westen Berlins. Ruhig wirkt sie, ernst und äußerst gefasst. Ihre Eltern und eine andere Schwester sind noch in der Ukraine, sagt sie. Sie telefoniere täglich mit ihnen über WhatsApp. "Noch wurde die Stadt nicht angegriffen", sagt Shushana. "Aber wer weiß, wie lange das so bleibt."
In Odessa studierte sie Anglistik, Germanistik und Romanistik. Eigentlich, sagt sie, wollte sie im Sommer eh nach Westeuropa, als Touristin. "Nun bin ich aus einem anderen Grund hier", sagt sie trocken, verzieht kurz den Mund.
Shushana lebt, wie die anderen Kinder im Bus auch, im Hotel. "Wir sind unheimlich freundlich aufgenommen worden", sagt sie. Mitglieder der jüdischen Gemeinde Berlins hätten sie freudig begrüßt, für die Kleinsten sogar Geschenke mitgebracht. "Wir sind unheimlich dankbar", sagt sie. Und ergänzt dennoch: "Ich vermisse mein Zuhause. Meine Heimat ist Odessa."