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Geschlossene Gesellschaft

Immer wieder wird von desolaten Zuständen in Behindertenwohnheimen berichtet. Das sind oft nur Extreme, die Probleme liegen viel tiefer. Und kaum jemand bekommt sie mit.

Als Helga Lehmann* ihren Sohn Andreas* an diesem Winternachmittag vor knapp zwei Jahren wiedersieht, prangt eine Wunde in seinem Gesicht, direkt neben der Nase. Ein Mitbewohner in Andreas' Heim hatte ihn ins Gesicht gebissen. Die Stelle ist inzwischen getrocknet, der Abdruck der Zähne aber noch immer sichtbar. Der Biss liegt da schon einige Tage zurück. Lehmann hatte nur zufällig davon erfahren. Die Pflegerinnen und Pfleger, die dabei waren, als es passierte, hatten sie weder informiert noch einen Arzt gerufen. Das muss Helga Lehmann selbst tun.

Andreas ist von Geburt an schwerstbehindert. Geistig ist er vollkommen gesund, körperlich auf Rund-um-die-Uhr-Betreuung angewiesen. Er sitzt im Rollstuhl, kann nicht selbstständig essen, nichts greifen, sich nur schwer im Bett umdrehen. Er kann "Ja" sagen, bei "Nein" nur leicht den Kopf drehen. Er kommuniziert vor allem mit den Augen: Wandern die Richtung Küche, heißt das: "Hunger". Schaut er Richtung Bett, heißt das: "Ich möchte schlafen."

Als Andreas neun Jahre alt ist, kommt er auf eine Schule für körperlich behinderte Kinder. Den Rest der Zeit betreut seine Mutter ihn daheim, allein. Je älter er wird, sagt sie, desto schwerer werde die Pflege. Wenn er den ganzen Tag zu Hause ist, dauere es bis zu acht Stunden, ihn zu waschen und zu pflegen, Essen zu kochen, es ihm zu reichen; ihn aus dem Rollstuhl auf die Toilette oder ins Bett zu heben. Vor einigen Jahren zieht Andreas in ein Heim, auf eigenen Wunsch, wie seine Mutter sagt.

Es sollte eine Erleichterung werden für alle Beteiligten. Stattdessen kamen neue Probleme auf. Die Bisswunde im Gesicht ist nur das sichtbarste. Ein spezielles Pflegebett sei ihm ohne Vorwarnung weggenommen worden, erzählt Helga Lehmann. "Der braucht das nicht, der kann auf einer Matratze auf dem Boden schlafen", hätten sie im Heim gesagt, als sie danach fragte.

Helga Lehmann klingt müde. Hilf- und machtlos

Andreas kann nicht kauen, ihm das Essen zu reichen, dauert deshalb anderthalb Stunden. Zeit, die die Pfleger und Pflegerinnen sich trotz mehrfacher Bitte nicht nehmen. Die Folge: Andreas bekommt starke Magen- und Darmbeschwerden. Wenn er dagegen am Wochenende nach Hause kommt, habe er starken Hunger und Durst, sagt Lehmann. "Als ob er im Heim nicht wirklich satt werden würde."

Sie erwarte nicht viel, sagt Helga Lehmann. Nur dass ihr Sohn vernünftig mit Essen und Trinken versorgt werde. Andreas selbst will über seine Erfahrungen nicht sprechen. Seine Mutter klingt müde, wenn sie am Telefon über das Heim ihres Sohnes spricht. Hilf- und machtlos. Vor allem aber ängstlich. Lehmann heißt eigentlich anders, ihren wirklichen Namen will sie nicht in diesem Artikel lesen. Aus Angst, den Heimplatz ihres Sohnes zu verlieren. Denn für den, sagt sie, gebe es keine Alternativen.

Experten sprechen seit Jahren von teils unhaltbaren Zuständen in der Pflege. 2017 enthüllte das Team um den Investigativreporter Günter Wallraff, wie Heimbewohnerinnen und Heimbewohner von Pflegekräften misshandelt und gedemütigt wurden. Anfang des Jahres geriet eine Behinderteneinrichtung im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen in die Schlagzeilen: Bewohner des Wittekindshofs sollen ohne richterliche Anordnung eingeschlossen und auf Stühlen fixiert worden sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen 145 Personen, darunter Pflegekräfte, Ärzte und der ehemalige Leiter des Geschäftsbereichs. Dann Ende April: die Mehrfachtötung im Potsdamer Oberlinhaus. Eine Pflegerin soll vier Bewohner und Bewohnerinnen ermordet, eine fünfte lebensgefährlich verletzt haben.

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