LISSABON. Die Tramlinie 28 in Portugals Hauptstadt ist weithin berühmt. Statt eine teure Stadtrundfahrt zu buchen, kommt man in der historischen Bahn an vielen Sehenswürdigkeiten vorbei. Kaum ein Tourist lässt sich eine Fahrt mit ihr entgehen. Entsprechend ist die Bahn immer zum Bersten gefüllt. Für jemanden wie mich, der im Stadtteil Graça wohnt und auf diese Linie angewiesen ist, hat das, außer der Enge, unangenehme Nebenwirkungen. Ich lerne Dinge, die ich lieber nicht gewusst hätte.Eine deutsche Touristin meldet sich beim Fahrer. Sie bittet ihn anzuhalten, man habe ihr den Fotoapparat aus dem Rucksack geklaut. So etwas scheint häufiger zu passieren, jedenfalls zuckt der Fahrer ungerührt die Schultern. Eine Gruppe älterer Frauen deutet auf die Sticker neben den Halteknöpfen: "Beware of Pickpockets", Vorsicht vor Taschendieben, steht da geschrieben. Damit ist der Fall erledigt.Noch ehe ich der Touristin raten kann, zum Flohmarkt zu gehen, weil gestohlene Sachen dort häufig wieder auftauchen, wird es unruhig im Wagen. Eine Mittvierzigerin ist aufgestanden und richtet sich über mehrere Fahrgäste hinweg an einen jungen Mann: "Sie! Haben Sie den Fotoapparat dieser Frau geklaut?" Der junge Mann schaut überrascht. Er trägt akkurat geschnittenes Haar, einen goldenen Ohrring, sein gebügeltes Hemd steckt in der Bundfaltenhose, unterm Arm klemmt eine Aktentasche. Ein klassischer Taschendieb sieht anders aus.Dieser Fahrgast jedoch ist schwarz. Der Rest der Passagiere ist weiß. Der Streit beginnt. Während die Frau ihn auffordert, seine Tasche zu öffnen, entgegnet der junge Mann in bemüht ruhigem Ton, dass sie ihn nicht grundlos bezichtigen könne. Warum sie es trotzdem getan hat und worum es hier eigentlich geht, bleibt unausgesprochen. Bereits an der nächsten Haltestelle ist alles wieder vorbei. Der junge Mann steigt aus, die Touristin beruhigt sich, und die Mittvierzigerin brabbelt etwas über die Kriminalität heutzutage. Die älteren Frauen nicken zustimmend.Situationen wie diese sind die Ausnahme in der multikulturellen Hauptstadt Portugals. Und doch gibt es sie: Die älteren Männer, die sich abwenden und abfällig von "denen da" sprechen, wenn Einwandererfamilien vorbeilaufen. Die freien Taxis, die nicht anhalten, stattdessen weiterfahren, wenn dem Fahrer die Hautfarbe des Fahrgastes nicht passt. Die Fremdenfeindlichkeit in Lissabon ist leiser und unauffälliger als andernorts. Aber sie existiert.
Sascha Lübbe
Reporter und Autor
Kolumne