3 Abos und 3 Abonnenten
Artikel

Blaue Flecken gehören dazu

Nikolas Kinzel und Hannah Spreitzenbarth/Foto: Kay Herschelmann

Stuntleute können spektakulär kämpfen, stürzen oder sich mit dem Auto überschlagen. Doch sie können auch Dinge, die auf der Leinwand nicht so deutlich zu sehen sind: Sie sorgen für die Sicherheit am Seil oder unter Wasser und bauen auch mal ein Glasdach für eine Actionszene selbst. Wer sich für diesen Beruf entscheidet, sollte belastbar und furchtlos sein – und die eigenen Fähigkeiten gut einschätzen können.


Sie kommt zur Hilfe, als ihre Kollegin in einem Zweikampf mit einem Bösewicht steckt. Nimmt Anlauf und springt mit gestrecktem Bein auf den Mann zu, dreht sich um die eigene Achse und will ihm einen Schlag ins Gesicht verpassen. Den kann der Mann abwehren - dafür verpasst sie ihm nur wenige Sekunden später einen fiesen Tritt in die Kniebeuge. Die Zuschauer*innen von „3 Engel für Charlie" von 2019 sehen in dieser Kampfszene eine gnadenlose Kristen Stewart im knappen Glitzerkleid - sie sehen aber auch Hannah Spreitzenbarth, eines der drei Doubles der US-Schauspielerin. Als Stuntfrau kam sie in den Actionszenen des Films zum Einsatz.

Weniger actiongeladen geht es an diesem Tag Anfang Mai zu. Normalerweise würden Hannah Spreitzenbarth und ihr Freund Niklas Kinzel jetzt mit anderen Stuntleuten trainieren, vielleicht Kampfsport machen oder einen Workshop für Autostunts belegen. Doch wegen der Corona-Pandemie haben die Hallen geschlossen, Filmdrehs wurden abgesagt. Da muss der Park in der Nähe ihrer Berliner Wohnung reichen. Dort machen sie Boxtraining, schlagen und kicken abwechselnd gegen das Schlagpolster und stellen eine Mini-Kampfszene nach.

„Ich bin nicht für den Schreibtisch geboren", sagt Niklas Kinzel. Trotz der Unsicherheit, die er und seine Kolleg*innen derzeit erleben, schwärmt er von seinem Job. Er könne reisen und arbeite mit Menschen, die andere nur auf der Leinwand erleben. „Ich bin sehr glücklich, dass ich diesen Beruf machen kann." Auch wenn das bedeute, dass man bei einem Dreh nicht nur einmal, sondern vielleicht mehr als ein Dutzend Mal eine Treppe hinunterstürzen müsse. „Es wird immer von uns erwartet, dass wir nicht meckern", sagt er.

Kein anerkannter Beruf

Der 31-Jährige hatte eigentlich vor, Sozialarbeiter zu werden. Aber da war diese Leidenschaft für den Kampfsport, die ihn schon seit seiner Kindheit begleitet. Über Kontakte landete er als Stuntman bei der RTL-Serie „Lasko - Die Faust Gottes". Hinter der Serie steht die in Hürth bei Köln ansässige Filmproduktionsfirma Action Concept, die sich auf Formate spezialisiert hat, in denen Stunts eine große Rolle spielen und die auch die Serie „Alarm für Cobra 11" produziert. Niklas Kinzel fasste Fuß im Stungeschäft. Als Quereinsteiger ist er eher die Regel als die Ausnahme unter den Stuntleuten. Stuntleute können auch Sachen machen, die für Filmzuschauer*innen weniger sichtbar sind. Niklas Kinzel ist zum Beispiel auch Stuntrigger. Das bedeutet, dass er am Set Stunts betreut, für die Seile genutzt werden. Die kommen oft dann zum Einsatz, wenn Darsteller*innen durch die Luft fliegen, etwa nach einem kräftigen Schlag.

„Stuntman ist kein anerkannter Beruf, für den es eine festgelegte Ausbildung und dann einen Abschluss gibt", sagt Pamela Gräbe, Geschäftsführerin der German Stunt Association - das ist der Bundesverband deutscher Stuntleute. Praxiserfahrungen am Filmset seien entscheidend. „Die praktische Seite ist ganz wichtig.

Learning by doing mit erfahrenen Stuntkoordinatoren" sei der beste Weg, um in den Beruf einzusteigen. Besondere Fähigkeiten eignen sich Stuntleute auch über Workshops und Weiterbildungen an. In Workshops, die unter anderem die German Stunt Association anbietet, üben sie Autostunts, Theaterfechten und Kampfchoreografien oder lernen, wie ein Stunt vor der Kamera am besten zur Geltung kommt. Einige Stuntleute haben zusätzliche Qualifikationen, etwa als Industriekletter*in oder als so genannter Rescue Diver, der für die Sicherheit bei Tauchszenen sorgt. Als Voraussetzung für diesen Beruf sieht der Verband eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein Studium an - auf eine bestimmte Fachrichtung ist man jedoch nicht festgelegt.

„Learning by doing" - diesen Weg wählte Hannah Spreitzenbarth. Sie ist ausgebildete Balletttänzerin, stellte aber fest, dass diese Branche nichts für sie ist, und beschloss, Stuntfrau zu werden. „Dafür habe ich fünf Jahre trainiert", sagt die 30-Jährige. So oft es ging, nahm sie am Training von Stuntleuten teil. Immer wieder bot sie sich für Tests an, mit denen Stunts vorab ausprobiert und geprobt werden. Dabei kam ihr zugute, dass sie bereits Leute in der Szene kannte. Die Branche in Deutschland ist überschaubar, man kennt sich. „Das Netzwerk ist alles", sagt Hannah Spreitzenbarth.

Die German Stunt Association schätzt, dass es in Deutschland bis zu 160 Stuntleute gibt, von denen nur etwa 20 Prozent Frauen sind. Das liege daran, dass es in TV- und Kinoproduktionen generell weniger Rollen für Frauen gebe, sagt Gräbe. Zudem seien in den Drehbüchern weniger Actionszenen für weibliche Charaktere vorgesehen. Der Verband der Stuntleute unterscheidet zwischen neun verschiedenen Berufsbildern in der Branche - das sind neben den Stuntperformern und -riggern unter anderem Choreograph*innen für Kampfszenen oder Expert*innen für Stunts mit Pferden. Eine tragende Rolle hat der Stunt Coordinator, der für die Umsetzung der Actionszenen zuständig ist.

„Der Stunt Coordinator ist am Set das Bindeglied zwischen der Regie und den Stuntleuten", sagt Dani Stein im Telefongespräch mit „M". Die Wahlberlinerin ist eine der wenigen weiblichen Stuntkoordinatoren weltweit. Sie entscheidet, welche Szenen gedoubelt werden und sorgt dafür, dass die Ausstattung stimmt. „Wenn jemand in einem Film durch ein Glasdach fällt, weiß ich, wie das Dach gebaut werden muss." Häufig baut sie die Sachen gleich selbst - handwerkliches Geschick kann im Stuntgeschäft nicht schaden. Zuletzt hat sie unter anderem die Stunts für die Serie „Babylon Berlin" koordiniert.

Seit 30 Jahren ist Dani Stein außerdem als Stuntfrau aktiv, ihr Alter verrät sie grundsätzlich nicht. Wer sich ihre Website ansieht, kann ihr dabei zuschauen, wie sie in eine Fensterscheibe kracht, mit einem Auto über eine Parkschranke hinweg fliegt oder auf einem brennenden Motorrad ins Wasser stürzt. Ihre Begeisterung gilt allem, was schnell fährt. Sie „liebe Geschwindigkeit", brauche den Adrenalinschub, den der Job ihr gebe. Dafür nimmt sie einiges in Kauf: Arbeitstage, die 16 Stunden dauern können, und kurzfristig angekündigte oder verschobene Drehtage, Phasen, in denen es am Stück sehr viel, dann wieder weniger zu tun gibt. Das sei nicht einfach gewesen, als ihre Tochter noch klein war. „Das war hart als alleinerziehende Mutter. Ich habe an die 30 Kindermädchen und Babysitter verschlissen."

Oft seien Stuntleute nur tageweise in Filmprojekten tätig, sagt Pamela Gräbe. Bei großen, internationalen Produktionen wirkten sie aber auch mehrere Wochen oder Monate am Stück mit. Nur wenige Stuntleute seien fest angestellt, die meisten arbeiteten freiberuflich, viele seien in der Künstlersozialkasse. Trotzdem gebe es über den Status der Freiberuflichkeit immer wieder Auseinandersetzungen mit der Rentenversicherung.

Superreich könne man hierzulande als Stuntfrau oder -mann nicht unbedingt werden - anders als in den USA, dem Land der großen Actionfilme. Dort seien manche Stuntleute Millionäre, sagt Dani Stein. In deutschen Produktionen hingegen, vor allem fürs Fernsehen, spielten Actionszenen eine geringere Rolle. Das bestätigt auch Niklas Kinzel: „Wenn man sparen muss, sind wir die ersten, die darunter leiden". Doch auch in Deutschland lasse sich von dem Job gut leben. „Man kann gut bis sehr gut verdienen", sagt Dani Stein. Vor Corona habe es ausreichend Aufträge gegeben. Das habe zu großen Teilen an der Streamingplattform Netflix gelegen, die Filme und Serien in hoher Zahl selbst produziert und auch in Deutschland dreht. Wie es weitergeht, weiß sie nicht. Vielleicht, sagt sie, erlebe die Branche einen Boom. „Die Menschen wollen Filme gucken." In der Krise kommt ihr möglicherweise eine Eigenschaft zugute, die den Job aus ihrer Sicht erst möglich macht: „Man darf keine Angst haben", sagt Dani Stein. Nur dann funktioniere auch ein Treppensturz. Der Körper stecke die Stunts am besten weg, wenn er locker und unverkrampft sei. Sie habe sich noch nie bei einem Stunt einen Knochen gebrochen. Doch blaue Flecken gehörten dazu. „Und meine Schienbeine sehen auch nicht so toll aus", lacht sie.

Die wohl wichtigste Voraussetzung für den Beruf sei eine gesunde Selbsteinschätzung, sagt Hannah Spreitzenbarth. Falscher Stolz sei fehl am Platz. Niklas Kinzel ergänzt: „Wenn man eine Sache noch nicht gut beherrscht oder einen anderen Schwerpunkt hat, muss man auch mal einen Job ablehnen." Die beiden haben sich darauf eingestellt, dass sie nicht bis zur Rente Stunts umsetzen werden. Hannah Spreitzenbarth hat im Fernstudium ihren Abschluss in Kultur- und Medienmanagement gemacht, um für die Zeit nach den aktiven Stunts als Produktionsassistenz am Set arbeiten zu können. Niklas Kinzel will später verstärkt auf seine Arbeit als Stuntrigger setzen.

Dani Stein hingegen möchte nicht von einem Höchstalter ausgehen. Autostunts werde sie noch eine Weile machen können, und ihre Arbeit als Stuntkoordinatorin sowieso. Wie lange man in diesem Job bleiben könne, das sei individuell. Es brauche eben eine gewisse Grundfitness. „Man darf nicht aufhören, man muss immer weiter machen."

Zum Original