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Acht Tage auf See

Sie retten 104 Menschenleben – und müssen dann tagelang um die Einfahrt in einen sicheren Hafen bitten. Auf engstem Raum saßen Crewmitglieder von Mission Lifeline und Geflüchtete acht Tage auf dem Rettungsschiff Eleonore fest. Mit an Bord war der Dresdner Journalist Johannes Filous. Er hat die dramatischen Bedingungen dokumentiert, unter denen Seenotrettung im Mittelmeer stattfindet.


Am Schluss, als alle an Land sind, fotografiert Johannes Filous die Rettungswesten, die ausgebreitet auf dem Boden des Hafens der sizilianischen Stadt Pozallo liegen, in den die Eleonore schließlich einlaufen durfte. Die Westen der Geretteten liegen dicht beieinander, sie brauchen nicht viel Platz. „Allein die ausgelegten Westen nehmen mehr Fläche ein als die Menschen auf der Eleonore am Tag an Bord hatten", schreibt Filous dazu bei Twitter.

Einige Tage nach seiner Rückkehr sitzt er in einem Café in Dresden und klickt sich durch die Fotos und Videos, die er an Bord der Eleonore gemacht hat. Auf fast jedem Bild sind die leuchtend roten Rettungswesten zu sehen. Er habe während dieser Zeit nur einmal Angst gehabt, sagt Filous im Gespräch mit M. Das war, als die Crew das Schlauchboot entdeckte, das auf dem Mittelmeer trieb. Der Motor war ausgefallen, an einer Stelle entwich bereits Luft. Er sah, wie viele Menschen in dem Boot saßen, und fragte sich: „Wie sollen die alle auf das Schiff passen?"

Johannes Filous ist Medizinstudent, doch an Bord der Eleonore war der 30-Jährige als Journalist. Er ist einer der Köpfe hinter „Straßengezwitscher", einem Twitter-Account, den er mit Alexej Hock ins Leben rief. Auslöser war ein Vorfall im Frühjahr 2015, bei dem Rechtsextreme versucht hatten, ein Protestcamp von Geflüchteten vor der Dresdner Semperoper zu attackieren. Seitdem berichtet „Straßengezwitscher" über Demonstrationen und Konflikte um das Thema Asyl, über fremdenfeindliche Proteste und Ausschreitungen wie in Freital und Heidenau. Die journalistischen Quereinsteiger Filous und Hock gewannen dafür 2016 den Grimme-Online-Award.

Es sei für ihn nur schwer zu ertragen, wenn in seinem Umfeld „das ganz grundlegend Menschliche verloren geht", sagt Filous. Das ist sein Antrieb für Straßengezwitscher, und es ist die Motivation für „Seegezwitscher", einem neuen Twitter-Account, den Filous für seine Zeit auf der Eleonore startete. Eine Seenotrettung zu begleiten, war für ihn der nächste logische Schritt. Er ging auf Mission Lifeline zu. Der Verein aus Dresden war im vergangenen Jahr in die Schlagzeilen geraten, als ihr erstes Schiff, die Lifeline, tagelang auf hoher See blockiert worden war, nachdem die Besatzung unter Kapitän Claus-Peter Reisch rund 230 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hatte. Die Lifeline wurde später von den maltesischen Behörden beschlagnahmt.

Die Seenotretter*innen brauchten was Neues: So wurde die Eleonore, ein umgerüstetes Fischerboot aus dem Jahr 1961, 20 Meter lang, 5,50 Meter breit, zum Rettungsschiff. Ende August dieses Jahres stachen sie erneut in See - dieses Mal unter deutscher Flagge. Johannes Filous war mit an Bord.

Seinen ersten Tweet für „Seegezwitscher" setzt er am 24. August ab. Schon da weist er darauf hin, dass er einige der Fotos und Videos, die er während des Einsatzes machen wird, Mission Lifeline zur Verfügung stellen wird. Das war die Bedingung dafür, dass er die Mission begleiten durfte.

Auf dem Rettungsschiff muss er sich immer wieder, so erzählt er später, mit seiner Rolle auseinandersetzen. Denn dort ist er nicht nur Journalist, der unbeteiligt berichtet, sondern auch ein Mitglied der Crew, das Geschirr spült und Wachen übernimmt - so wie auch der andere Kollege an Bord, ein freier Kameramann. Vor diesem Hintergrund sagt Filous über seinen Einsatz, er sei „journalistisch anspruchsvoll" gewesen, „auch schwerer, als ich gedacht habe".

Bis zum 3. September, dem Tag, an dem Filous das Foto der ausgebreiteten Warnwesten bei Twitter veröffentlicht, berichtet er täglich über die Ereignisse auf der Eleonore. Er teilt Fotos und kurze Videos und schreibt ein paar Zeilen dazu. Für seine Arbeit benutzt er vorwiegend sein Smartphone. Vor allem nach der Rettung erweist es sich als sein wichtigstes Werkzeug an Bord - allein schon aus Platzgründen.

Am 26. August entdeckt die Crew auf hoher See das Schlauchboot, in das sich 104 Menschen drängen. Drei Crewmitglieder nähern sich in einem Beiboot, auch Johannes Filous sitzt darin. Er filmt Clara Richter, die Köchin der Eleonore, die den Menschen zuwinkt. Sie winken zurück, rufen und jubeln.

Es ist Zufall, dass die Seenotretter*innen die Geflüchteten finden: Sie waren zu einem anderen Boot in Seenot gerufen worden, auf dem sich über 60 Menschen befunden haben sollen, auch Frauen und Kinder. Dorthin waren sie auf dem Weg. „Was mit dem anderen Boot passiert ist, wissen wir nicht", sagte Kapitän Claus-Peter Reisch der FAZ in einem Interview.

Während der Rettungsaktion fährt ein Militärboot nah an die Eleonore heran. Filous und die Mission-Lifeline-Crew gehen davon aus, dass es zur so genannten libyschen Küstenwache gehört. „Die Menschen hatten Angst und haben mir entgegengerufen, dass sie nicht zurück nach Libyen wollen", twittert Filous.

Alle kommen sicher auf das Rettungsschiff. Insgesamt befinden sich jetzt 113 Menschen an Bord der Eleonore. Nach den Informationen der Crew stammt ein Großteil der Geretteten aus dem Sudan und Südsudan, einige wenige aus Nigeria, Ägypten und dem Tschad. 30 von ihnen sind minderjährig, die Hälfte davon ohne Elternteil unterwegs. Frauen sind nicht darunter.

Geflüchtete erscheinen in den Medien oft als Zahl - als scheinbar homogene Gruppe. Fotos von Menschenmengen auf Schlauch- und auf Rettungsbooten verfestigen dieses Bild - also auch jene Bilder, die Johannes Filous macht. Er weiß das, und er bemüht sich um einen Blick auf den einzelnen Menschen. Einige von ihnen interviewt er, darunter ein Physikstudent, der Filous fragt: „Warum dürfen wir nicht nach Europa?" Doch Fotos dieser Menschen hat er bislang nicht bei Twitter geteilt - auch, weil er fürchtet, dass Fremdenfeinde damit Stimmung machen könnten. Er könne sich aber vorstellen, in einem anderen Rahmen auf die Geschichte einzelner Geflüchteter aufmerksam zu machen, etwa in einer Ausstellung.

Bei vielen Geretteten, sagt Johannes Filous, seien ihm mehr oder weniger sichtbare Verletzungen aufgefallen, etwa Brandverletzungen oder Hiebverletzungen am Gesicht, an den Füßen und Beinen. Diese Verletzungen würden aus ihrer Zeit in Libyen stammen, berichteten einige. „Es war relativ schnell klar durch diese Gespräche, dass sie in Libyen nichts Gutes erfahren haben", sagt Filous.

Acht Tage lang bleiben Crew und Gerettete auf der Eleonore. Sowohl Malta als auch Italien verweigern die Einfahrt. Als einige der Geflüchteten an Bord zum ersten Mal Land sehen, erklären die Crewmitglieder ihnen, warum sie nicht einfahren dürfen.

An Bord ist es eng. Filous' Fotos zeigen Menschen, die nachts dicht nebeneinander an Deck schlafen und sich tagsüber auf der Suche nach Schatten unter einer Plane sammeln. Für die Geretteten gibt es nur eine Toilette. Dass es überhaupt so lange gut gegangen sei, sagt Filous, habe daran gelegen, dass alle an einem Strang gezogen hätten und trotz der angespannten Lage respektvoll miteinander umgegangen seien. Er habe eine „grundlegende menschliche Zusammenarbeit", beobachtet, „in einer Situation, wo es ums pure Überleben geht".

Die Crew lässt sich einiges einfallen, damit die Stimmung nicht kippt: gemeinsames Musikmachen etwa oder Fahrten mit dem Beiboot - um der Enge des Schiffes zumindest für einen Moment zu entkommen.

Dann spitzt sich die Lage zu, starker Regen setzt ein, es gewittert. Das Deck wird geräumt, die durchnässten Menschen kauern mit Wärmedecken in allen Ecken des Bootes, die Schutz vor dem Regen bieten. Kapitän Claus-Peter Reisch erklärt den Notstand und steuert ohne Erlaubnis Pozallo am 2. September an. Kapitän und 1. Offizier werden nach Ankunft von der Polizei mitgenommen, sind aber am nächsten Tag wieder auf freiem Fuß, wie Filous berichtet.

Für die beiden Journalisten an Bord gibt es nach der Ankunft Probleme. Die Polizei verlangt von ihnen, dass sie die Aufnahmen aushändigen, die sie auf dem Meer gemacht haben. Doch so weit kommt es nicht. Den Trubel, der nach der Ankunft um Kapitän Reisch entsteht, nutzen sie, um unbemerkt von Bord zu gehen und fernab der Behörden ihr Material zu sichern. Als sie zur Anlegestelle zurückkehren, sind ihre Smartphones und Speicherkarten leer. Filous sagt, er habe die Behörden dann nur noch auf jene Aufnahmen verwiesen, die er ohnehin bereits veröffentlicht hatte.

Nach Angaben von Mission Lifeline haben die italienischen Behörden die Eleonore beschlagnahmt und ein Bußgeld in Höhe von 300.000 Euro gegen Claus-Peter Reisch verhängt. Die Geretteten seien in ein „Auffanglager" gebracht worden. Mehrere europäische Länder, darunter Deutschland, hätten sich zur Aufnahme der Geflüchteten bereit erklärt. Johannes Filous spricht bei dem Lager von einem „abgeriegelten Camp". Der Kontakt zu den Geflüchteten sei ihm dort verboten worden.

Das respektvolle Zusammenleben so vieler Menschen auf dem Schiff hat Filous beeindruckt - so sehr, dass er sich bei seiner Rückreise, am Flughafen, als er beobachtet, wie Menschen sich am Kaffeestand vordrängeln, „fehl am Platz" fühlt. In Europa werde dafür gekämpft, die Not der Menschen auf dem Mittelmeer vom Blick der Öffentlichkeit fernzuhalten, sagt Filous. „Es dürfen keine Aufklärungsflugzeuge mehr fliegen, die zeigen, dass Boote im Mittelmeer sind und untergehen, weil die Bilder nicht genehm sind." Darum sei es wichtig, Missionen wie die der Eleonore zu begleiten. Und zwar nicht, um Heldengeschichten zu erzählen, sondern, um die katastrophalen Umstände offenzulegen, unter denen die Rettungen stattfinden. Für Johannes Filous ist das ganz klar eine journalistische Aufgabe.

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