"Er hat gesagt, er würde bei einem Freund übernachten. Am nächsten Tag hat er uns eine SMS geschickt, dass er in Syrien sei." Iqbel Ben Rejebs Stimme zittert auch heute noch ein bisschen, wenn er von diesem Tag im März 2013 erzählt, als sein Bruder Hamza verschwand. Der Informatik-Student war von der Nusra-Front angeworben worden und über Libyen nach Syrien gereist. Er solle sich um deren Webseiten und Internet-Propaganda kümmern, wurde ihm erklärt. Doch Hamza ist schwer körperbehindert und sitzt im Rollstuhl. "Die haben doch gar keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass sie ihm eine Bombe in den Rollstuhl packen und ihn damit in die Luft jagen wollten", sagt sein älterer Bruder.
Der Familie gelang es, Hamza nach Tunesien zurückzuholen. Iqbel Ben Rejeb gründet daraufhin den "Verein zur Rettung im Ausland festsitzender Tunesier." Ihr Ziel: den Kämpfern, die bereits im Ausland sind, den Ausstieg zu ermöglichen und gleichzeitig in Tunesien verhindern, dass sich noch mehr Jugendliche extremistischen Gruppen anschließen.
Ben Rejeb will "IS"-Aussteigern helfen
Radikalisierung nach der Revolution
Mehr als fünftausend Tunesier kämpfen in den Rängen verschiedener radikalislamischer Gruppen, so ein aktueller Bericht des Menschenrechtskommissariats der Vereinten Nationen. Zwar gab es bereits seit den 1990er Jahren tunesische Kämpfer zum Beispiel in Afghanistan und Tschetschenien, doch erst mit dem politischen Umbruch 2011 ist die Zahl derer, die sich terroristischen Gruppierungen angeschlossen haben, sprunghaft angestiegen.
Der Historiker und Sicherheitsexperte Faysel Cherif sieht zwei Hauptgründe, warum ausgerechnet Tunesien so viele Dschihadisten produziert. Beide hängen mit dem politischen Umbruch von 2011 zusammen. "Viele wollten diese Revolutionseuphorie in die arabischen Länder exportieren, wo der Umbruch nicht gelungen war." Nicht alle Kämpfer seien zunächst religiös motiviert gewesen, so Cherif, viele seien erst im Ausland radikalisiert worden.
In Tunesien selbst begannen außerdem gleichzeitig Extremisten, junge Leute anzuwerben. Die meisten führenden Köpfe waren unter dem Ben Ali-Regime zu langen Haftstrafen verurteilt worden und kamen in den Wirren der Revolution frei - bei Gefängnisausbrüchen wenige Tage vor dem Sturz des Diktators und bei zwei Generalamnestien im Frühjahr 2011, bei denen sie zusammen mit politischen Gefangenen der Diktatur freigelassen wurde.
Finanzieller Anreiz
Die tunesische Regierung und die Zivilgesellschaft habe der Propaganda der Extremisten wenig entgegenzusetzen, klagt Cherif. "Wenn sie sich hier mal umschauen, was gibt es, abgesehen von der Moschee? Nichts." Jugendhäuser, Kulturangebote und andere Freizeitmöglichkeiten sind gerade im Landesinneren Tunesiens Mangelware.
Zwischen 3000 und 10.000 US-Dollar für jeden Kämpfer erhalten die Anwerber, so die Vereinten Nationen. Außerdem werden die Familien von Dschihadisten von Wohltätigkeitsorganisationen finanziell und materiell unterstützt. Diese sollen jetzt, so die tunesische Regierung, strenger kontrolliert werden, genauso wie Moscheen, wo radikale Prediger zum Dschihad aufrufen.
Die Tunesische Regierung versucht die Kontrollen zu verstärken
Mangel an Strategie
Mit den zwei Anschlägen auf das Nationalmuseum Bardo und ein Hotel in Sousse, bei denen dieses Jahr 60 vor allem ausländische Touristen ums Leben kamen, wird die Radikalisierung tunesischer Jugendlicher auch im eigenen Land zunehmend zur Gefahr. Die tunesische Regierung setzt zur Zeit vor allem auf repressive Maßnahmen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Mehr als 15.000 Verdächtige wurden seit Anfang des Jahres überprüft, mehr als 700 Personen seit dem Anschlag in Sousse vor einem Monat festgenommen, brüstet sich Tunis. Tunesier unter 35 Jahren dürfen nicht mehr in bestimmte Länder wie zum Beispiel Libyen, die Türkei oder Serbien reisen, die typische Durchgangsstationen in Richtung Syrien und Irak sind.
Das sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, mein Faycel Cherif, um das Problem kurzfristig in den Griff zu kriegen, jedoch bei weitem nicht genug. "Wir brauchen eine Strategie. Sie könne heute 30, 40 Zellen hochnehmen und ein paar hundert Leute ins Gefängnis stecken, die Maschine wird trotzdem weiterlaufen und zwei-, drei-, viertausend Neue ausspucken."
Die größere Herausforderung wird es sein, eine langfristige Strategie zu schaffen, damit sich junge Leute den Extremisten gar nicht erst anschließen. "Die Leere, die die tunesische Jugend über lange Jahre hin erlebt hat, hat diesen Strömungen alle Freiheiten gegeben, in unsere Gesellschaft einzudringen und viele junge Leute zu radikalisieren", gibt auch Tunesiens Regierungschef Habib Essid zu. "Arbeit zu schaffen, vor allem in den Regionen, ist ein wichtiges Ziel, damit die jungen Leute wirtschaftlich unabhängig werden und sich nicht diesen Strömungen anschließen. Wir kommen voran, aber nur langsam."
Im September will die Regierung einen Kongress organisieren, auf dem die staatlichem Institutionen zusammen mit der Zivilgesellschaft eine Strategie gegen die Radikalisierung junger Leute auf die Beine stellen wollen. Ben Rejebs jüngerer Bruder Hamza spricht nach wie vor nicht öffentlich über seine Erlebnisse in Syrien. "Aber er hat das Logo unseres Vereins entworfen", erzählt Iqbel Ben Rejeb mit einem stolzen Lächeln.