Mit überwältigender Mehrheit wählt Tunesien einen parteilosen pensionierten Rechtsdozenten zum neuen Präsidenten. Seine Anhänger hoffen, dass er endlich die Forderungen der Revolution von 2011 umsetzt.
Freudentränen, Feuerwerke und Autokorsos in der Innenstadt von Tunis: Tausende Menschen haben sich am Sonntagabend spontan versammelt, um den Wahlsieg von Kais Saied zu feiern. "Heute, mit fünfzig Jahren, habe ich zum ersten Mal die Revolution gespürt", ruft ein Mann freudestrahlend. Zum ersten Mal sei das Land wirklich unabhängig, meint eine junge Frau, die sich die tunesische Fahne um den Kopf geschlungen hat.
Nur wenige hundert Meter von der freudetrunkenen Menge entfernt gibt der neugewählte Präsident seine erste Pressekonferenz, bescheiden und nüchtern wie immer. Im für ihn typischen monotonen Hocharabisch dankt der schmale, grossgewachsene Mann den Bürgern und versichert, der Präsident aller Tunesier sein zu wollen. "Die Tunesier haben der ganzen Welt eine Lektion erteilt. Es ist eine Revolution im Rahmen einer demokratischen Verfassung und in völliger Legalität", interpretiert er den Wahlausgang.
Das offizielle Ergebnis der gestrigen Stichwahl um das Präsidentenamt wird zwar erst für Dienstag erwartet. Laut Nachwahlbefragungen zweier Umfrageinstitute liegt Saied mit mehr als 70 Prozent der Stimmen aber so klar in Führung, dass es an seinem Sieg kaum noch Zweifel gibt.
Bei der Jugend beliebtZwar wurde Saied während Monaten in spontanen Umfragen immer wieder als möglicher Präsident genannt, doch dass er tatsächlich ohne Partei, ohne festes Wahlkampfteam und ohne nennenswerte Finanzierung einen Erdrutschsieg erringen würde, daran glaubten auch viele Anhänger lange nicht. "Ich habe ihm vor dem ersten Wahlgang noch gesagt, er vergeude seine Zeit", gesteht ein Verwandter am Rande der Pressekonferenz.
Bereits kurz nach der Revolution war der Rechtsdozent immer wieder als Verfassungsexperte in den tunesischen Medien in Erscheinung getreten - und von vielen Menschen zu einer Kandidatur gedrängt worden. 2014 hatte er noch abgelehnt. Er habe kein Interesse an Posten und Palästen, sagte er damals. Überzeugt habe ihn schliesslich ein junger Mann, der ihn 2017 an einer Autobahnraststätte angesprochen habe. "Er ist in Tränen ausgebrochen und hat mir gesagt, ich hätte damals die Verantwortung nicht übernommen, dabei sei ich es den jungen Leuten schuldig." Die sonst so feste Stimme des meist etwas steif wirkenden Juristen Saied zittert ein bisschen, wenn er davon erzählt. Dieser Moment habe ihn tief berührt, daher habe er sich entschlossen, 2019 zu kandidieren.
Anhängern verschiedenster politischer Lager dient der Jurist als Projektionsfläche. Es sind vor allem jüngere, gut ausgebildete Tunesier, die Saied gewählt haben. Unter den 18- bis 25-Jährigen sind es laut den Umfragen sogar 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Saieds ehemalige Studenten berichten, er sei ein geduldiger und fairer Dozent gewesen, der immer ein offenes Ohr gehabt habe. Viele haben sich im dezentral über die sozialen Netzwerke organisierten Wahlkampf für ihren früheren Lehrer engagiert. Sie sehen in Saied eine Alternative zu der politischen Klasse, die sich ab 2011 an den verschiedenen Regierungen beteiligt hatte. Postenschacher und persönliche Auseinandersetzungen, Korruptionsvorwürfe und wirtschaftlicher Stillstand hatten die letzten Jahre in Tunesien geprägt.
Basisdemokratie als WahlversprechenEs war ein Kontext, der dem als integer und prinzipientreu geltenden Saied zugutekam. Die Botschaft des 61-Jährigen zieht: Er selbst sei nur das Mittel, um den Willen der Bevölkerung und die Forderungen der Revolution umzusetzen. Entsprechend machten seine Anhänger mit dem Slogan von 2011, "Echab yourid . . ." ("Das Volk will . . ."), Kampagne.
Versprochen hat Saied in diesem Wahlkampf, den er "Erläuterungskampagne" nennt, nichts ausser der Idee, das Verhältnis der Bürger zum Staat neu zu denken. Dreh- und Angelpunkt des von Saied vorgeschlagenen politischen Projekts ist ein basisdemokratisches, dezentralisiertes Regierungssystem. Dabei wählen die Bürger auf lokaler Ebene Vertreter, die dann ihrerseits Vertreter in die nächsthöheren Gremien entsenden, um die Anliegen der verschiedenen Regionen in einem zentralen Parlament zu verteidigen. Wenn die Menschen der Ansicht sind, dass die Volksvertreter ihre Arbeit schlecht machen, können sie ihnen das Mandat entziehen. Sein Ziel sei es, das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen zu erneuern, sagte Saied am Sonntagabend.
Ein politisches Projekt, das Slim Laghmani, Professor für Rechtsphilosophie, als utopisch bezeichnet. Ihn beunruhigt vor allem, welchen Weg der als dogmatisch geltende Saied und seine Anhänger einschlagen werden, wenn das von ihnen vertretene Konzept und die dafür notwendige Verfassungsänderung nicht umgesetzt werden können. Denn ohne eigene Partei, geschweige denn einer Mehrheit im Parlament scheint dies ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Der neue Präsident riskiert, zum Spielball des zersplitterten Parlaments zu werden und am Ende trotz seinem lagerübergreifend starken Wahlergebnis isoliert dazustehen.
Umstrittene konservative PositionenSein Sieg ist nicht nur Ausdruck der Hoffnung, den 2011 begonnenen politischen Umbruch endlich zu Ende zu führen, sondern auch eine klare Absage an die politisch-wirtschaftlichen Netzwerke, die die Politik Tunesiens der letzten Jahre geprägt haben. Doch nicht wenige Wähler haben vor allem aus Ablehnung des Gegenkandidaten, des einflussreichen Medienunternehmers Nabil Karoui, für den Juristen Saied gestimmt. Saieds konservative gesellschaftliche Positionen stellen für sie ein Problem dar.
So möchte er zum Beispiel die Todesstrafe, für die seit mehr als zwanzig Jahren ein Moratorium besteht, beibehalten. Während er sich zwar gegen die Gefängnisstrafe für Homosexuelle ausspricht, lehnt er es gleichzeitig ab, den entsprechenden Paragrafen des tunesischen Strafrechts zu streichen. Auch die Erbrechtsreform, die sein Vorgänger Beji Caid Essebsi angestossen hat, wird Saied kaum vorantreiben. Er hat aber gleichzeitig klargestellt, dass es mit ihm in Sachen Gleichstellung zwischen Mann und Frau keine Rückschritte geben werde.
Heute hätten sie für Saied gestimmt, morgen seien sie bereit, gegen seine Ideen auf die Strasse zu gehen - so oder ähnlich formulieren viele Mitglieder der einflussreichen tunesischen Zivilgesellschaft ihr ambivalentes Verhältnis zum Gewinner.
Einmal ernannt, wird der neue Präsident zunächst versuchen müssen, zwischen den verschiedenen Kräften des zersplitterten Parlaments zu vermitteln, damit überhaupt eine Regierung zustande kommt. Wohin er Tunesien darüber hinaus führen wird und wie lange der erneut auflebende revolutionäre Elan überdauert, ist offen. Die Erwartungen, die auf Saied lasten, sind enorm.