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Mühen der Ebene

Sieben Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings kann sich die Bilanz Tunesiens sehen lassen. Auf einen vergleichsweise unblutigen und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen Umbruch folgten freie Wahlen, eine neue Verfassung und sogar der Friedensnobelpreis. Heute ist der Elf-Millionen-Staat am Mittelmeer das einzige Land der arabischen Demokratiebewegung von 2011, das nicht in Chaos und Krieg versunken oder in altbekannte autoritäre Muster zurückgefallen ist.

Und doch brodelt es in Tunesien. Den demokratischen Entwicklungen stehen nicht nur wirtschaftliche Probleme, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit entgegen. Auch die neugeschaffenen demokratischen Strukturen, die das Land vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen schützen sollen, werden teilweise schon wieder ausgehöhlt.

Im Ausland werden die Risiken für die politische Entwicklung Tunesiens unterschätzt. Zwar ­hatte die ­internationale Gemeinschaft den Aufbau demokratischer Strukturen und die Organisation freier Wahlen zunächst intensiv begleitet. Doch seit die islamisch-konservative Ennahda-Partei 2014 aus der Regierung ­zurücktrat, die Verfassung verabschiedet wurde und mit Nidaa Tounes eine säkulare Partei bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stärkste Kraft wurde, sahen viele Geber die demokratische Zukunft des Landes als einigermaßen gesichert an. Obwohl in wichtigen Schlüsselsektoren Tunesiens wie der Justiz oder den Sicherheitsdiensten autoritäre ­Strukturen den Umbruch 2011 fast unbeschadet überlebt haben, traten für die internationale Gemeinschaft Sicherheitsaspekte und vor allem wirtschaftliche Fragen in den Vordergrund.

Dass sich die tunesische Wirtschaft so schnell wie möglich erholen muss, darüber sind sich internationale und tunesische Beobachter einig. Doch die Geister scheiden sich daran, wie man das Wachstum ankurbelt, die Inflation und den Kursverfall des tunesischen Dinars stoppt. Die Regierung habe keine klare Vorstellung davon, wie sie das Land aus der Krise führen könne, argumentieren Kritiker. Stattdessen verwalte sie nur den Status quo und richte sich zu stark nach den Vorgaben internationaler Geldgeber, allen voran des Internationalen Währungsfonds. Dieser ist mit rund 2,9 Milliarden Euro einer der wichtigsten Kreditgeber.

Tunesien ist auf diese Gelder angewiesen, um seinen aufgeblasenen Beamtenapparat zu finanzieren. Rund die Hälfte des Staatshaushalts fließt jährlich in Gehälter. Die Nichtregierungsorganisation Observatorium der tunesischen Wirtschaft (OTE), die sich deutlich gegen die Politik des IWF in Tunesien positioniert, fürchtet, dass das Land in eine Schuldenspirale abgleitet. Seit 2017 muss Tunesien eine Reihe von Krediten zurückzahlen, die vor allem in den Anfangsjahren nach dem Umbruch 2011 aufgenommen wurden. Mehr als ein Fünftel des Staatshaushalts von rund 36 Milliarden Dinar (12 Milliarden Euro) werde heute für die Schuldentilgung benötigt, so das OTE.

Ein greiser Präsident

Eine weitere Bremse für die Wirtschaft ist die Korruption. 2017 startete Regierungschef Youssef Chahed eine öffentliche Kampagne gegen Bestechlichkeit. Mehrere hohe Beamte und Schmuggler wurden festgenommen. Dennoch bleibt der Filz eines der größten Investitionshemmnisse für in- und ausländische Unternehmer. Die Bevölkerung klagt, dass die „kleine" Korruption im Alltag sogar noch gewachsen sei.

Ohnehin ist die Revolutionsrendite für die überwiegend jungen Leute, die 2011 auf die Straße gingen, weitgehend ausgeblieben. „Arbeit, Freiheit, Würde" wurde damals auf jeder Demonstration skandiert. Bis auf die Meinungsfreiheit habe man nichts gewonnen, so die bittere Bilanz vieler Tunesier heute. Ihr Vertrauensvorschuss an den Staat ist längst aufgebraucht.

Knapp die Hälfte der tunesischen Bürger sind unter 30 Jahre alt; von den zumeist älteren Entscheidungsträgern fühlen sie sich schlecht vertreten. Mit seinen 42 Jahren ist Premierminister Youssef Chahed eine Ausnahme - Staats­präsident Beji Caid Essebsi ist dagegen schon 91 Jahre alt. Von den vielen jungen Leuten, die nach dem Umbruch 2011 in Parteien eintraten, haben die meisten der Parteipolitik schnell wieder den Rücken gekehrt. Die verkrusteten, patriarchalischen Strukturen, die sie dort vorfanden, passten so gar nicht zur Aufbruchstimmung der Revolution.

Stattdessen bildete sich eine dynamische Zivilgesellschaft heraus, die in vielen politischen Fragen ein Gegengewicht zu den traditionellen politischen Akteuren bildet. Engagierte Bürger setzen sich für Transparenz im politischen Geschäft, für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Belange der jahrzehntelang marginalisierten Regionen im Landesinneren ein. Doch klagen sie darüber, dass ihre Forderungen immer wieder mit dem Verweis abgetan würden, die Situation in Tunesien sei doch viel besser als die im Nachbarland Libyen, in Syrien, Ägypten oder im Jemen. Ihnen werde abgesprochen, nach den gleichen Rechten und Entwicklungsmöglichkeiten zu streben wie ein Bürger in Singapur, in Norwegen oder Frankreich. Statt sich an universellen Rechten zu orientieren, sollte es ihnen genügen, sich positiv von den darbenden Nachbarstaaten abzugrenzen.

Diese überwiegend junge Zivilgesellschaft, die in Tunesien mehr als die Medien die Rolle einer vierten Gewalt einnimmt, kritisiert lautstark, dass die Demokratisierung stagniert. Zwar sollen nun Anfang Mai endlich die seit 2014 mehrfach verschobenen Kommunalwahlen stattfinden. Doch die notwendigen Gesetze zur Dezentralisierung, die die Zuständigkeiten und das Budget der neu zu wählenden Institutionen regeln sollen, wurden noch nicht verabschiedet. Auch das Verfassungsgericht, das laut Verfassung bereits 2015 geschaffen werden sollte, wurde bis heute nicht eingesetzt. Der Grund sind Blockaden im heterogenen Parlament.

So verfügt auch die so genannte Regierung der nationalen Einheit nur auf dem Papier über eine komfortable Mehrheit. In der Praxis führen die beiden großen Koalitionspartner, die nationalkonservative Partei Nidaa Tounes und die islamisch-konservative Ennahda, häufig Grabenkämpfe. Ein bevorzugtes Mittel sind Auseinandersetzungen über die richtige Interpretation der Geschäftsordnung des Parlaments, sodass immer wieder Abstimmungen an Verfahrensfragen scheitern oder dadurch bewusst verzögert werden.

„Versuchter Staatsstreich"

Neben dem Verfassungsgericht traf es zuletzt die Wahrheitskommission, die „Instanz für Wahrheit und Würde", die die Verbrechen der Diktatur aufarbeiten soll. Nach einer erregten Debatte weigerten sich die Abgeordneten, das Mandat der Kommission zu verlängern. Allerdings herrscht unter Juristen keine Einigkeit darüber, ob das Parlament über die Mandatsverlängerung überhaupt zu entscheiden hatte und wenn ja, ob das nötige Quorum erreicht wurde.

Solche Streitereien haben naturgemäß in dieser kritischen Phase des demokratischen Aufbaus in Tunesien weit schlimmere Folgen als in einem eingespielten System, in dem wichtige Garantiemechanismen und demokratische Instrumente bereits funktionieren. Emna Guellali, Leiterin des tunesischen Büros der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW), spricht gar von einem „versuchten Staatsstreich gegen die Übergangsjustiz, den Rechtsstaat und den demokratischen Wandel generell", der das Vertrauen ins Parlament nachhaltig beschädige.

An der Regierungsspitze steht ­unterdessen mit Youssef Chahed bereits der siebte Premierminister in sieben Jahren. Mit gut anderthalb Jahren im Amt ist er dies bereits länger als alle Vorgänger seit 2011, doch auch sein Stuhl wackelt. Chahed war im Herbst 2016 zwar als Wunschkandidat von Staatspräsident Essebsi angetreten. Doch sein Handlungsspielraum war von Anfang an begrenzt.

„Er hat weder sein Programm noch seine Regierungsmannschaft selbst ausgesucht, das macht ihn noch schwächer als seine Vorgänger", sagt der Jurist und Kandidat für das zu wählende Verfassungsgericht, Slim Laghmani. Chahed habe vor allem die Aufgabe, das so genannte Abkommen von Karthago umzusetzen - ein Richtungspapier, das 2016 unter der Ägide des Staatspräsidenten mit der Mehrheit der im Parlament vertretenen Parteien sowie des Arbeitgeberverbands und der Gewerkschaft er­arbeitet wurde.

Fortschrittliche Fassade

Nutznießer der Auseinandersetzungen im semiparlamentarischen System ist Präsident Essebsi, der die Streitigkeiten im Parlament und die Schwäche der Regierung geschickt zu nutzen weiß, um seine Kompetenzen auszureizen. Auf der einen Seite positioniert er sich klar für Frauenrechte und hat eine Debatte zur Erbrechtsreform angestoßen - Themen, die auch im Ausland für viel positive Aufmerksamkeit gesorgt haben. Andererseits nutzt er das Durcheinander im Parlament, um für eine Reform des Verfassungsgerichts und für eine Wahlrechtsreform zu werben, die ­klare Mehrheiten im Abgeordnetenhaus schaffen würde. Dies lässt in Teilen der politischen Szene Tunesiens die Alarmglocken schrillen. „Während des Spieles aus parteipolitischen Überlegungen heraus die Spielregeln zu ändern ist mehr als problematisch", so Emna Guellali von HRW. Die Kritiker befürchten, Essebsi wolle - genau wie während der Diktatur - das Bild des gesellschaftlich fortschrittlichen Tunesiens nutzen, um hinter diese Fassade autoritäre Strukturen zu errichten.

Dabei sollte gerade das neue Regierungssystem mit der Machtverteilung zwischen Premier und Präsident verhindern, dass erneut ein starker Mann an der Spitze des Staates steht. Essebsi zieht auch deswegen Misstrauen auf sich, weil seine Partei Nidaa Tounes einer Reihe von Mitgliedern des alten Regimes eine politische Heimat bietet. Er selbst war schon unter dem ersten Präsidenten Habib Bourguiba Minister.

Neben der wirtschaftlichen Krise entwickelt sich also in wachsendem Maße eine politische Krise. Immer mehr Tunesier stellen den Nutzen des demokratischen Wandels infrage und wünschen sich die relative Stabilität aus der Zeit der Diktatur zurück. Was bei der Bevölkerung von den Nachrichten aus der Politik hängenbleibt, ist das Bild eines politischen Schmieren­theaters, bei dem es den meisten Politikern nur darum geht, sich Posten zu sichern und nicht etwa für die Belange der Bevölkerung einzutreten.

Dieser Frust schlägt sich in wachsender Politikverdrossenheit nieder. Nach einer Umfrage vom Februar ist sich nur ein Drittel der Wahlberechtigten sicher, bei den anstehenden Kommunalwahlen abstimmen zu wollen. Dabei könnten es gerade diese Wahlen sein, die zum ersten Mal die positiven Auswirkungen des Umbruchs für die Bevölkerung greifbar machen. Drei Viertel der Kandidaten sind jünger als 45, sodass eine Verjüngung der politischen Klasse realistisch erscheint. Andererseits ist in vielen der 350 Wahlbezirken die Auswahl begrenzt, weil nur die beiden großen Parteien Ennahda und Nidaa Tounes antreten.

Den Filz angehen

Gleichzeitig drohen neue Konflikte in den Grenzregionen des Landes, deren Wirtschaft seit jeher vom illegalen Grenzverkehr lebt. Unter dem Vorwand der Terrorabwehr geht die Regierung dort massiv gegen den Schmuggel vor. Mit amerikanischer und deutscher Unterstützung errichtet sie an der Grenze zu Libyen ein elektronisches Grenzüberwachungssystem. Um die Einwohner der Grenzgebiete zu beruhigen, hat die Regierung immer wieder regional begrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versprochen, die sie jedoch kaum finanzieren kann. Bleiben dann die versprochenen Stellen aus, kommt es erneut zu Konflikten, wie zuletzt in der Region von Tataouine. Was fehlt, ist eine Strategie, wie die Schattenwirtschaft mittelfristig in reguläre Wirtschaftsstrukturen überführt werden kann.

Tunesien braucht wirtschaftliche Reformen, die der Bevölkerung der verarmten Regionen des Landes eine Perspektive bieten. Ebenso dringend ist es, den Filz der Wirtschaftselite und die Korruption anzugehen. Andernfalls werden sich solche Konflikte wie in den Grenzregionen nur mit massiver Repression unter Kontrolle bringen lassen.

Doch Wachstum allein reicht nicht aus. Der Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali hat gezeigt, dass die Lebensdauer eines autokra­tischen Regimes begrenzt ist, wenn es allein von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Tunesien hat mit der Meinungsfreiheit, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz im Land verankert hat, einen guten Anfang gemacht. Nun darf die Aufmerksamkeit für die weiteren politischen und demokratischen Reformen nicht nachlassen.

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