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Wo Männer doppelt so gleich wie Frauen sind

NZZ - 15.03.2018

Tunesien gilt als progressiv, wenn es um Frauenrechte geht. Doch im Erbrecht herrscht weiter Diskriminierung. Nun werden die Stimmen für eine gleichberechtigte Aufteilung des Erbes zwischen Männern und Frauen lauter.


Geht es nach Abdelhamid Meddeb, braucht sein Land keine weitergehenden Rechte für Frauen. "Was wollen die denn immer mit dieser Gleichberechtigung?", fluchte der Tunesier, als am vergangenen Wochenende mehr als zweitausend Frauen und Männer an ihm vorbei in Richtung Parlament zogen. "Gleichstellung beim Erbe ist ein Recht, kein Gefallen", lautete der Slogan der Demonstranten, die gegen das diskriminierende Erbrecht in ihrem Land auf die Strasse gingen. Doch mit diesem Slogan können Männer wie Meddeb nichts anfangen: "Alles Unsinn!", schimpfte er. Ein guter Ehemann würde sich gewissenhaft um Frauen und Kinder kümmern, da brauche es keine gesetzliche Regelung.

Der Protestmarsch, zu dem mehr als siebzig Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft aufgerufen hatten, wirft ein Licht auf ein zentrales ungelöstes Problem im tunesischen Familienrecht. Zwar geniesst der kleine Maghrebstaat eigentlich den Ruf, in Sachen Frauenrechte ein Vorreiter in der arabischen Welt zu sein. Geht es aber um die Aufteilung des Erbes, werden die Geschlechter nach wie vor höchst ungleich behandelt. Denn wie in den meisten islamisch geprägten Staaten richtet sich auch in Tunesien das Erbrecht im Wesentlichen nach dem Koran. Und das bedeutet: Den Frauen steht nur die Hälfte des Erbes ihres männlichen Gegenparts gleichen Ranges zu.

Religion als Vorwand?

Diese Regelung wurde auch in Tunesien nach der Unabhängigkeit des Landes 1956 weitgehend übernommen. Die religiöse Verankerung des Gesetzes ist seither für die Gegner einer Reform das wichtigste Argument. Und doch ist seit der Revolution Bewegung in die Diskussion gekommen. So wurde in der neuen tunesischen Verfassung, die 2014 verabschiedet wurde, das Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter bereits eindeutig verankert. Zudem verabschiedet das Parlament im vergangenen Sommer eine Strafrechtsreform, die Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Allein im Erbrecht sehen viele eine der letzten grossen Hürden, die überwunden werden muss, um - zumindest auf dem Papier - eine Gleichstellung der Geschlechter herzustellen.

Zu ihnen gehört Monia Ben Jemia, die Vorsitzende des Tunesischen Verbandes demokratischer Frauen (ATFD), eine der wichtigsten Frauenorganisationen des Landes. Sie findet, dass die Religion nur ein Vorwand sei, "um patriarchalische Strukturen aufrechtzuerhalten", schliesslich gelte in Tunesien Zivilrecht und kein religiöses. "Wir haben doch auch die Körperstrafen längst abgeschafft." Aber immerhin: Dass inzwischen überhaupt in der Öffentlichkeit über das langjährige Tabuthema diskutiert werde, sei bereits ein wichtiger Etappensieg, so Ben Jemia.

Kritiker des Familienstandsgesetzes von 1956 argumentieren, dass sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten in Tunesien grundlegend gewandelt hätten und Männer schon lange nicht mehr die Alleinverdiener seien. Auch die 15-jährige Schülerin Neila Maouia sieht das so. Mit einer Gruppe Freundinnen hatte sie sich dem Protestmarsch vom Wochenende angeschlossen. Schliesslich, sagt Maouia, könne auch sie in einigen Jahren von der Ungerechtigkeit betroffen sein, und allein eine Gesetzesänderung könne dafür sorgen, dass sich die Mentalitäten in ihrer Heimat änderten.

Immer wieder sehen sich die Reformbefürworter indes mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das Thema Erbrecht hauptsächlich bürgerliche Kreise betreffe und der Regierung nur dazu diene, sich im Ausland zu profilieren. Die Erbrechtsreform gehe an den Prioritäten vieler Frauen, die in prekären Verhältnissen vor allem im Landesinneren lebten, vorbei. Lamia Ben Hamadi, Kreisvorsitzende der Tunesischen Frauenunion aus Ben Arous, einem Vorort von Tunis, verweist darauf, dass viele Frauen auf dem Land oft gar nichts erbten. Eine Erbrechtsreform könne dazu beitragen, dass "die Landarbeiterinnen, die die Felder der Familie oder des Mannes bewirtschaften, endlich ihre eigene Lebensgrundlage erhalten".

Nur wenige wollen sich klar positionieren

Der tunesische Präsident Beji Caid Essebsi nahm sich im Sommer 2017 des öffentlichkeitswirksamen Themas an. "Wir bewegen uns in allen Bereichen hin zur Gleichstellung. Der Kern der Sache ist das Erbe", sagte er anlässlich des tunesischen Frauentags und setzte eine Expertenkommission für individuelle Freiheiten ein. Sie solle Vorschläge erarbeiten, wie das Erbrecht gerechter gestaltet werden könne. Diese Initiative wurde auch von Teilen des konservativen Koalitionspartners, der moderat islamistischen Ennahda-Partei, und vom Mufti der Republik, dem höchsten Religionsgelehrten des Landes, begrüsst. Und doch polarisiert das Erbrecht auch innerhalb der Parteien. Die meisten Politiker vermeiden es daher, sich öffentlich klar zu positionieren.

Die Expertenkommission des Präsidenten hat unterdessen ihre Arbeit abgeschlossen, doch die Reformvorschläge liegen noch in der Schublade. Eigentlich sollten sie im Februar der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Doch Anfang Mai finden in Tunesien landesweit zum ersten Mal freie Kommunalwahlen statt. Um eine Instrumentalisierung des Themas im Wahlkampf zu vermeiden, hat sich das Präsidialamt dazu entschlossen, die Publikation auf die Zeit danach zu verschieben. Die Debatte über das heikle Thema ist jedoch endgültig angestossen.

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