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Flucht aus Venezuela: Dem Regime entkommen, in Berlin gelandet - WELT

Der 17-jährige Gian Marco Monacelli konnte aus seiner Heimat fliehen. Nun lebt er in Berlin und blickt mit Schrecken auf den Niedergang Venezuelas. Er weiß, dass er Glück hatte - die meisten müssen bleiben.

Gian Marco Monacelli nimmt das Smartphone vom Tisch, tippt kurz darauf herum, bis sich ein Video öffnet. Es zeigt mehrere schwer bewaffnete Sicherheitskräfte, die einen Demonstranten attackieren. Das Opfer liegt auf dem Boden, es wehrt sich nicht. Der Mob tritt zu, immer und immer wieder, schleift die Person an Armen und Beinen ein Stück über den Asphalt, lässt sie fallen und tritt dann erneut zu. „Das ist Caracas", sagt Monacelli und verweilt noch einen Moment mit seinen grünen Augen auf dem Bildschirm.

8000 Kilometer entfernt von Caracas sitzt der 17-Jährige am Spreeufer in Berlin-Mitte und erzählt mit Melancholie in der Stimme von seiner Heimat Venezuela. Eine Heimat, in die er nicht mehr zurückkehren kann und will.

Seit 2013 liefern sich Präsident Nicolás Maduro und seine sozialistische Partei einen Kampf mit der Opposition um die Macht in dem rund 30 Millionen Einwohner zählenden lateinamerikanischen Land. In den vergangenen Monaten ging das Regime immer härter gegen seine Gegner vor; es setzt demokratische Institutionen außer Kraft, lässt Oppositionelle inhaftieren und formt einen Staat, der immer mehr einer Diktatur gleicht. Die seit Anfang April stattfindenden Antiregierungsdemonstrationen schlägt das Militär im Auftrag Maduros nieder, über 120 Menschen kamen bisher ums Leben.

Währenddessen wird auch die humanitäre Krise im Land immer größer, weil die Wirtschaft im freien Fall ist: Supermarktregale sind leer, Medikamente fehlen, Menschen fliehen ins Nachbarland Kolumbien. Jeden Tag passieren durchschnittlich 25.000 Menschen die Grenzbrücke Simón Bolívar, die in die kolumbianische Stadt Cucúta führt.

Viele kommen, um das Nötigste zu besorgen und gehen wieder zurück. Schätzungen zufolge haben in den vergangenen fünf Jahren aber zwei Millionen Menschen das Land verlassen, mehr als 300.000 Venezolaner sollen in Kolumbien leben. Sie wollen nicht mehr zurück ins Elend.

Dieses Elend hat auch Monacelli hinter sich gelassen. Seit einem Jahr ist er in Deutschland, seine Sprachkenntnisse sind gut. Er berichtet über seine Heimat auf Deutsch, manchmal nur stockt er und wählt lieber das englische Wort. Mit einem spanischen Pass konnte er sich in einen Flieger setzen, nach Berlin kommen und bis auf weiteres bleiben. Untergekommen ist er bei Verwandten. Ein mühsames Asylverfahren wie andere Venezolaner muss er durch seine doppelte Staatsbürgerschaft nicht durchlaufen.

Nur jeder Vierte erhält Asyl in Deutschland

Auch in Deutschland steigt die Zahl der Flüchtlinge aus Venezuela: Allein bis Juli 2017 haben 78 Personen in Deutschland Asyl beantragt, im gesamten Vorjahr waren es 88. Nur rund ein Viertel von ihnen wird anerkannt.

Monacelli weiß, dass er Glück hat. Er konnte einfach gehen, die meisten seiner Landsleute bekommen eine solche Chance nicht. Auch er ist auf die Straße gegangen mit seinen Freunden. Sie klopften mit Kochlöffeln auf leere Töpfe, um auf den Hunger im Land aufmerksam zu machen.

Das war vor drei Jahren. Schon damals wurden die Regale in den Supermärkten immer leerer, das Essen jeden Tag teurer. Der tägliche Einkauf hing von der letzten Ziffer der Ausweisnummer ab, die Mengen wurden rationiert. Auch Alltägliches wie Shampoo kostete irgendwann mehr als ein Viertel des monatlichen Mindestlohns. „Meine große Schwester hat ein Baby. Als sie schwanger wurde, begannen wir, so viele Windeln wie möglich zu horten", erinnert sich Monacelli. Monatelang hätten sie gesammelt.

Seine Familie lebte in der Stadt San Felipe in Yaracuy, einem ländlichen Bundesstaat im Norden Venezuelas, drei Stunden von Caracas entfernt. Sie besaß einen Laden für Autozubehör, gehörte damit zur Mittelschicht des Landes. Durch Kontakte zu einem Lebensmittelhändler blieb Monacelli, seinen Eltern und Geschwistern der Hunger erspart.

Trotzdem wurde das Leben immer unerträglicher, sodass er vor einem Jahr entschied zu gehen. Seine Mutter folgte ihm mit der 13-jährigen Schwester einige Monate später nach Europa, ging aber direkt nach Spanien. Der Vater hingegen blieb. Er wollte Venezuela nie verlassen. „Er ist dort tief verwurzelt, tiefer als ich", sagt Monacelli. Irgendwann möchte er aber trotzdem zurück nach Venezuela gehen. „Und eines Tages werde ich das auch."

Denn Freunde hat er in Europa keine. Die meisten sind zwar wie er aus Venezuela geflohen, allerdings in die USA, nach Mexiko oder Argentinien gegangen. Nur eine ist geblieben: Monacellis beste Freundin. Sie wolle ihr Studium unbedingt in Caracas weiterführen, sagt er zuerst. Dann überlegt er kurz: „Aber auch wenn sie gehen wollte - sie müsste ja ganz alleine fliehen." Wer keine Familie außerhalb Venezuelas hat und die Kosten nicht aufbringen kann, wie Monacelli, der wird kaum fliehen.

Zwei Deutschkurse auf einmal

Seine Freundin kann das Haus mittlerweile nicht einmal mehr verlassen, an Universitätskurse ist nicht zu denken. Er bekommt WhatsApp-Nachrichten von ihr, über die verzweifelte Situation in seiner Heimat, über die Hoffnungslosigkeit im Land. Es macht ihn traurig und wütend - hier im weit entfernten Berlin. Auch um sich abzulenken, belegt Monacelli zwei Deutschkurse auf einmal.

Es waren vier deutsche Worte, die ihn dazu brachten, die Sprache zu lernen: „Guten Tag, Herr Jones", heißt es im Original einer seiner Lieblingsfilme: „Indiana Jones". Monacelli ist schnell im Lernen - und ehrgeizig. In wenigen Monaten wird er wohl den Film auf Deutsch verstehen können. In Deutschland wird er dennoch nicht bleiben: Sein Ziel ist Spanien, wo ein Teil seiner Familie auf ihn wartet. „Deutschland ist im Winter einfach zu kalt", sagt er und lacht.

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