Sarah Stein

Head of Search Experience, SWR, Mainz

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Flut 1995: Das Hochwasser beginnt und endet in der Kneipe

Neuendorf. Das Haus der Familie Loersch steht an der Straße "Am Ufer" in Neuendorf. Marianne und Guntram Loersch wohnen hier. Nur diese schmale asphaltierte Straße und ein Grünstreifen trennen die Häuser vom Rhein. Ein Steinwurf.#


Von unserer Reporterin Sarah Kern

Dunkelgrau und fast bewegungslos liegt der Fluss heute in seinem Bett. 2,60 Meter hoch. Normalpegel. Vor 20 Jahren, im Januar 1995, sah es hier anders aus. Das Wasser stieg auf 9,22 Meter. Ein Jahrhunderthochwasser - das vierthöchste im vergangenen Jahrhundert.

"Es war damals abzusehen, dass das Wasser kommt, wir konnten uns 1995 darauf einstellen", berichtet Marianne Loersch (65). Sie wurde in dem Haus in der Uferstraße geboren. Durch immer wiederkehrendes Hochwasser zerstört, wurde es 2002 neu gebaut, und der Wohnbereich beginnt jetzt erst auf der ersten Etage. "Wenn man so nahe am Wasser lebt wie wir, dann beobachtet man den Rhein genau." 1995 stieg das Wasser langsam, aber stetig. Tagelange Regenfälle und einsetzende Schneeschmelze ließen das Wasser ansteigen und Koblenz versinken.


Klaus Lehnertz ist 77 und ebenfalls am Ufer des Rheins geboren, erzählt er an diesem Tag bei den Loerschs. "Wir hier direkt am Wasser, wir nehmen das mit dem Hochwasser nicht so ernst", sagt er. Lehnertz packt Alben aus. Gefüllt mit Bildern. Schwarz-Weiß-Fotografien aus den 50er-Jahren, rötlich-glänzende aus den 70ern. Auf allen: Hochwasser, Menschen in Booten, im Wasser. Einer fährt mit dem Rad durchs Hochwasser, nur die Lenkstange und sein Oberkörper gucken oben raus. Er lacht. Was sie alle auf den Bildern vereint: Die Menschen sehen glücklich aus. Und sie tragen Wathosen, Latzhosen aus Gummi, mit denen sie durch das Hochwasser laufen können.


Holzdielen verbinden labyrinthartig Haustüren oder Fenster im ersten Stock, wenn das Wasser schon zu hoch steht, um durch die Tür ins Haus zu gelangen. "Bei uns stand das Erdgeschoss unter Wasser. Unsere Möbel haben wir damals in einer angemieteten Garage untergestellt. Unsere Nachbarn haben ihre Möbel aufs Hausdach gestapelt", sagt Marianne Loersch. Not macht also erfinderisch. Aber von wirklicher Not spricht hier niemand. Im Gegenteil.


"Das Hochwasser fängt immer in der Kneipe an und hört da wieder auf", erklärt Lehnertz und zeigt auf seine Bilder. Da sieht man, wie Bierkästen auf Holzbretter gestapelt werden, Menschen stehen hüfthoch in der braunen Hochwasserbrühe und stoßen an. Guntram Loersch betont: "Wir wollen das nicht verharmlosen, das ist natürlich immer schlimm so ein Hochwasser, vor allem der ganze Dreck, den man wieder aus dem Haus bekommen muss, aber die Sensationsjournalisten, die sind uns 1995 sehr auf die Nerven gefallen."


Und von denen gab es viele, erzählen Lehnertz und die Loerschs. "Die haben sich auf die Boote geschlichen und wollten dramatische Situationen nachspielen. Rettungsaktionen aus den Häusern. Aber dramatisch war hier nichts." Und Marianne Loersch ergänzt: "Das ist hier am Rhein nicht wie im Osten, wie beim Elbhochwasser, da sind die Fluten ja in die Häuser geschossen, das ist hier anders, aber so was will man im Fernsehen sehen."


Die Hochwassererprobten vom Rhein wissen auch, warum es Familien in Ufernähe gibt, die dennoch Probleme mit dem steigenden Wasserstand haben. Lehnertz: "Früher gab es keine Ikea-Möbel, die fallen ja auch schon ohne Hochwasser auseinander." Am Ende der Fluten wird bergeweise Sperrmüll durch die Straßen geschoben, das zeigen die Bilder. "Früher war alles aus massivem Holz, das ging nicht so leicht kaputt."


Und die wenigsten seien wirklich vorbereitet. Das bedeutet, Holzdielen im Keller zu lagern, genügend Böcke vorrätig zu haben, mit denen Möbel aufgebockt werden können, wenn das Wasser in den Häusern steigt. "Hier am Ufer kommt man mit einer Stiefelhose auf die Welt", sagt Lehnerz. "Und die sollten für alle Familienmitglieder griffbereit sein." Er weiß aus Erfahrung: "Die schönsten Momente sind die, wenn einer ins Wasser fällt. Und wenn alles vorbei ist, dann grillen wir im Hochwasser-Dreck."

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