Wer „Hungerplan“ im Internet sucht, findet eine Kriegsstrategie. Deutschland belagerte 1941 die Oblast Leningrad (Sankt Petersburg) mit dem Ziel, die Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Die Leningrader Blockade dauerte 872 Tage. Zweieinhalb Millionen Menschen waren in der Stadt eingeschlossen. Mehr als eine Million von ihnen starb, bevor die Stadt 1944 befreit wurde. Siebzig Jahre später veröffentlicht Polina Barskova „Živye kartiny“, einen Prosaband rund um Sankt Petersburg als imaginären Ort. Barskova besticht durch sensible Wortfindungen und eine fragmentarische Lyrik, die Alltag und Ewigkeit beseelt. Dabei spricht sie direkt auf Kriegsverbrechen und Geschichtsvergessenheit an. In elf Kurzgeschichten betört Barskova mit verlorenen Existenzen, philosophischen Gedanken und poetischen Momentaufnahmen. Ihre Sprache entzieht sich traditionellen Erzählformen und verwebt private Erinnerung mit kulturellem Gedächtnis. Lesende werden zwischen Lebensrealitäten hin- und hergeworfen, um sich immer wieder von zarten Sprachbildern auffangen zu lassen. Eine feinfühlige Sammlung, die Zeug*innen verlangt.
Polina Barskova „Lebende Bilder“ Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, 218 S., 22 Euro
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