Angeblich hat Mahsa Amini ihr Kopftuch zu locker getragen. Die Sittenpolizei im Iran nahm sie fest – und die 22-jährige Iranerin verstarb kurz nach dem Aufenthalt auf der Polizeiwache in einem Krankenhaus. Das war Mitte September 2022. Seitdem demonstrieren Menschen im ganzen Iran immer wieder gegen die repressive Politik des Landes. Das auf der Scharia basierende Justizsystem sieht auch Strafen wie Amputationen von Körperteilen und den Tod vor.
Es sind nicht die ersten großen Proteste in dem Staat, der an den Osten der Türkei grenzt. Schon Ende der 1970er Jahren gingen die Menschen auf die Straße, um gegen das Regime zu demonstrieren. Diese Bewegung ging als Iranische Revolution in die Geschichtsbücher ein.
Jasmin Arbabian-Vogel hat sie als Kind im Iran miterlebt. Bis sie 18 Jahre alt war, lebte dort. Heute leitet die 54-jährige einen interkulturellen Pflegedienst in Hannover. Wie sie auf die aktuelle Situation in ihrem Heimatland blickt, wie ihr Aufwachsen im Iran war und was sie davon hält, dass sich als Zeichen der Solidarität mit Mahsa Amini einige deutsche und internationale Prominente die Haare abschneiden, erzählt sie im Interview.
Frau Arbabian-Vogel, wie blicken Sie aktuell auf die Situation der Frauen im Iran?
Die Einigkeit bei den Protesten erfüllt mich mit Stolz. Ich bewundere die Frauen und alle Menschen, die im Iran demonstrieren, für ihren Mut. Auf der anderen Seite habe ich extreme Sorge. Die Demonstrierenden begeben sich in große Gefahr. Diejenigen, die erkannt werden von den Behörden, werden abgeholt und verschwinden, manche werden zum Tode verurteilt. Dass die Weltgemeinschaft hinter ihnen steht, bestärkt die Menschen im Iran, auf die Straße zu gehen. Die Welle der Solidarität der westlichen Welt, die ist für die Demonstrierenden extrem wichtig. Diese mentale Unterstützung trägt die Proteste.
Als Zeichen der Solidarität haben sich einige Prominente und Privatpersonen die Haare abgeschnitten. Was halten Sie davon?
Es gibt darauf keine einfache Antwort. Können Sie sich noch an die Ice-Bucket-Challenge in den Sozialen Medien erinnern? Eigentlich war es total verrückt, dass Leute sich kübelweise Eiswasser über den Kopf geschüttet und dabei gefilmt haben. Aber die Aktion hatte einen Effekt. Sie hat die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, populär gemacht und es ist sehr viel Spendengeld zusammengekommen.
Wenn man also vom Ergebnis her denkt, ist auch die Aktion des Abschneidens der Haare richtig. Aber ich muss zugeben: Am Anfang war ich skeptisch. Denn, sich eine Locke abzuschneiden, verändert formal nichts. Aber es verschafft Aufmerksamkeit – das sagen auch Menschen aus dem Iran. Das Thema bleibt präsent und verbreitet sich in den Sozialen Medien rasend schnell.
Sie selbst wählten ein anderes Mittel. Um Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, haben Sie auf Facebook Fotos aus Ihrer Jugend im Iran geteilt. Warum?
Ich habe versucht, Empathie auszulösen. Empathie kann man nur für Menschen, Dinge oder Situationen empfinden, in die man sich hineinversetzen kann. Persönliche Fotos können eine Distanz überwinden. Es ging mir darum, zu dokumentieren: Iraner, Iranerinnen, das sind Menschen wie du und ich. Sie haben die gleichen Träume, Wünsche und Lebensweisen.
Inwieweit waren in Ihrer Jugend bereits die Rechte von Frauen im Iran beschnitten – und ist es aus Ihrer Sicht seitdem besser oder schlechter geworden?
Es ist schlechter als schlecht. Ich mag gar kein Ranking machen. Damals, in den ersten Jahren nach der großen Revolution 1979, ereignete sich ein schleichender Prozess. Eigentlich wussten aber alle, in welche Richtung es geht, wenn die Mullahs an die Macht kommen. Viele Iranerinnen und Iraner waren damals allerdings der Meinung: Na ja, das wird sich schon wieder einrenken. Sie dachten, es komme eine kurze, restriktive Phase und dann werde sich die islamische Regierung modernisieren. Sie hofften auf Strömungen und eine Opposition. Fakt ist: Das hat es alles nicht gegeben.
Was passierte stattdessen?
Die Mullahs kamen an die Macht. In den ersten beiden Jahren haben sie schleichend die Scharia eingeführt und ihre Gesetze zur Unterdrückung der Frauen. Nach und nach verließen immer mehr Intellektuelle, Royalisten und Linke das Land.
Ruhollah Chomeini (A. d. R.: Gründungsvater der Islamischen Republik Iran und von 1979 bis 1989 ihr Staatsoberhaupt) ist in den 1970er Jahren in ein Vakuum gestoßen. Weil es an Alternativen mangelte, wurde er zur Führungsfigur in der Revolution. Das war aus der Not heraus geboren. Selbst die Intellektuellen wie mein Vater gingen damals auf die Straße und schrien: Chomeini soll kommen! Ich war damals 11 elf Jahre alt und habe meinen Vater gefragt: Sag‘ mal, wisst ihr wirklich, was ihr da tut? Das kann doch nicht euer Ernst sein. Er antwortete: Ach Kind, das wird schon. Inshalla! (A. d. R.: lässt sich übersetzen als „so Gott will“ oder „hoffentlich“)
Wie ist es, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass die Menschen um einen herum jederzeit inhaftiert werden könnten?
Dieser Gedanke ist ständig präsent. Man hat eigentlich immer Angst, bis man der Person, die man gerade kennengelernt hat, vertrauen kann. Ein bisschen lässt es sich vielleicht mit der Situation in der DDR vergleichen. Allerdings wird die Todesstrafe im Iran weitaus häufiger vollstreckt. Ich glaube aber, das Gefühl der permanenten Unsicherheit und Angst, dürfte in der DDR und im Iran identisch sein. Das ist etwas, was einen nicht loslässt.
Unbeschwerte Momente, gibt es die für Jugendliche im Iran?
Im Iran feiert die Jugend die gleichen Partys wie hier. Sie finden nur eben im Verborgenen statt. Manchmal verpfeifen die Nachbarn einen, dann kommt die Gestapo. So nennen die Iranerinnen und Iraner die „Gascht-e Erschad“, die iranische Sittenpolizei.
In Deutschland gibt es Religionsfreiheit und Demokratie. Schätzen wir beides hierzulande genug?
Auch, wenn es uncharmant ist, Gegenfragen zu stellen: Was heißt genug in diesem Zusammenhang? Ich würde eher ein gewisses Wohlwollen an den Tag legen wollen. Denn, wie soll ich es anders schätzen – wie soll ich mir vorstellen, dass etwas nicht da ist, womit ich aufgewachsen bin? Möglicherweise könnte ich aus meiner Perspektive, die etwas anderes kennengelernt hat, sagen: Ihr schätzt die Religionsfreiheit und Demokratie nicht genug. Aber auf der anderen Seite ist es auch schwierig, etwas, was da ist, ausreichend zu schätzen, wenn man die Gegenerfahrung der Abwesenheit nie gemacht hat.
Dass diese Erfahrungen fehlen, ist aber vielleicht gar nicht so schlecht. Denn: Es führt dazu, Vertrauen in diese Demokratie und diesen Staat haben. Wissen Sie … als Kinder sind wir unseren Eltern manchmal auf der Nase herumgetanzt. Aber wir hatten immer das Vertrauen, dass sie uns weiterhin lieben und nicht vor die Tür setzen werden. Dieses Urvertrauen, das haben wir vielleicht auch als Bürgerinnen und Bürger dieses Staates. Selbst, wenn ich mich als Einzelperson nicht beteiligen will, Nichtwählerin oder Nichtwähler bin, weiß ich: Davon wird die Demokratie schon nicht untergehen. Natürlich ist das blöd, denn so stärkt man indirekt radikale Strömungen. Doch insgesamt ist die Demokratie in Deutschland stabil. Das zu wissen, ist ein gutes Gefühl!
Dieser Text ist zuerst in der Zeitschrift radius/30 erschienen. (Ausgabe Januar/Februar 2023)
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