Das Schnurren einer Katze wirkt beruhigend. Wedelt ein Hund mit dem Schwanz, freut man sich mit ihm mit. Dass Tiere die Stimmung von Menschen positiv beeinflussen können, hat so gut wie jede:r schon einmal im Alltag erlebt.
Doch die Vierbeiner und gefiederten Zweibeiner können noch mehr. Am „Institut für soziales Lernen mit Tieren“ im niedersächsischen Lindwedel helfen Esel, Hühner oder Hunde Menschen beim Gesundwerden oder Lernen.
Dort arbeitet auch die Sozialpädagogin Marie Bergmann. Sie ist Fachkraft für tiergestützte Intervention. Im Interview erklärt Bergmann, was Tiere besser als menschliche Therapeut:innen können, warum das Institut viele Nutztiere beherbergt und wie es den Tieren eigentlich bei ihren Einsätzen geht.
Frau Bergmann, was können Tiere leisten, was menschliche Therapeut:innen nicht so gut hinbekommen?
Der Vorteil bei der tiergestützten Intervention ist, dass Tiere von Natur aus eine Art Unverfänglichkeit besitzen, die Menschen nicht unbedingt in ein Setting in dieser Form einbringen können. Ein Tier verhält sich immer authentisch. Es hat keine Hintergedanken, und es kommuniziert nonverbal. Da kann es sich wenig verstellen. Ob der Hund mit dem Schwanz wedelt oder nicht, darauf hat er wenig Einfluss.
Ist ein Tier anwesend, gestalten sich Vertrauensaufbau und Beziehungsarbeit zwischen dem Therapeuten und dem Klienten wesentlich einfacher. Denn die Anwesenheit eines Tieres beruhigt und entspannt. Das ist ein ganz großer Vorteil zu rein zwischenmenschlichen Settings.
Wieso helfen Tiere dabei, Vertrauen zwischen Therapeut:in und Klient:in aufzubauen?
Einerseits liegt das an hormonellen Prozessen. Beim Kontakt mit Tieren schütten Menschen Glücks- und Entspannungshormone aus. Die Herzfrequenz und der Blutdruck sinken. Andererseits sorgt das Tier für eine lockerere Atmosphäre. Bedenken Sie: Das Wort Therapie ist ja schon sehr aufgeladen, oder? Im therapeutischen Setting geht es natürlich immer um den Klienten oder die Klientin. Ist ein Tier dabei, wird der Druck, den manche empfinden, abgemildert. Man muss nicht sofort über sich selbst und das eigentliche Problem sprechen. Erst einmal führen wir ein nettes Gespräch über das Tier. Die Therapie passiert dabei eher implizit.
Was unterscheidet den Umgang mit einem Tier im therapeutischen Kontext davon, sich um ein Haustier zu kümmern?
Ich würde sagen, so groß ist der Unterschied gar nicht. Viele der Effekte, die im therapeutischen oder pädagogischen Setting stattfinden, erleben auch private Haustierbesitzerinnen und -besitzer. Im therapeutischen Setting setzen wir die Effekte aber gezielter ein.
Ein Beispiel: Ein Kind hat in der sprachlichen Entwicklung einen Förderbedarf. Bringen wir ein Tier mit, kann dieses als Motivator dienen. Denn wenn das Kind wissen will, wie das Tier heißt, muss es uns fragen. Genauso, wie wenn es das Tier streicheln oder füttern möchte.
Und wo sehen Sie Parallelen zwischen Haus- und Therapietier?
Die schon genannten positiven Effekte für die Gesundheit treten beim Kontakt mit beiden auf. Wer sich um Tiere kümmert, ist oft mehr an der frischen Luft und in Bewegung. Die Fürsorge, die man gibt, stärkt das eigene Selbstbewusstsein und man erlebt sich selbstwirksam.
Kann es für das Tier nicht ganz schön stressig sein, an der Intervention mitwirken zu müssen?
Eine erfolgreiche Mensch-Tier-Begegnung sollte für beide Seiten Vorteile bringen. Das heißt, das Tier nimmt freiwillig teil und hat ebenso einen Mehrwert. Nicht nur beim Menschen lösen Tiere positive gesundheitliche Effekte aus, andersherum ist es genauso. Wenn wir einen Hund streicheln, wird nicht nur bei uns das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, sondern auch bei ihm. Er genießt es, gestreichelt und gefüttert zu werden oder einen Ball zu fangen.
Wir Fachkräfte für tiergestützte Intervention sind auch immer die Anwälte der Tiere. Wir achten auf ihre Stresssignale. Dafür müssen wir die Tiere sehr gut kennen, denn jedes zeigt Überforderung anders. Der eine Hund zieht sich in eine Ecke zurück, der andere lässt sich kaum etwas anmerken. Fühlt sich ein Tier in der Situation nicht wohl, verändern wir das Setting. Vielleicht mag der Hund gerade nicht gestreichelt werden, aber hat Lust auf einen Spaziergang. Hilft das auch nicht, wird er aus dem Setting herausgenommen.
Wie ist das insbesondere für Kinder, wenn das Tier mal keine Lust hat?
Das kann man mit Kindern dann gut reflektieren: „Ich glaube, der Hund ist müde. Was machst du denn, wenn du müde oder traurig bist?“ So haben sie gleich einen sozialen Lerneffekt. Außerdem können wir auf ein anderes Tier ausweichen. Und es muss nicht immer der direkte Kontakt sein. Tiere kann man auch beobachten, ihre Ställe säubern oder ihnen Essen zubereiten.
In Ihrem Institut gibt es viele Nutztiere. Hat das einen besonderen Grund?
Durch die Urbanisierung leben Menschen immer weniger mit Tieren zusammen, erst recht mit Nutztieren. Kaum jemand weiß, wie es sich anfühlt ein Huhn, eine Kuh oder ein Schaf zu streicheln. Wir versuchen, das Verhältnis zwischen Menschen und Nutztieren wieder aufleben zu lassen. Kinder lernen so zum Beispiel, wo die Milch herkommt.
Außerdem gibt es einen ethischen Aspekt. Wir wollen zeigen, dass sogenannte Nutztiere eben nicht nur Tiere sind, deren Fleisch, Milch oder Eier man nutzen kann. Auch sie haben Persönlichkeiten, man kann eine Beziehung zu ihnen aufbauen.
Merken Sie da ein Umdenken bei Kindern und Erwachsenen?
Ja! Wir erleben ganz viele Aha-Momente. Einige Eltern wissen gar nicht, dass eine Kuh nur Milch gibt, wenn sie ein Kalb hat und ihnen diese Kälber in der industriellen Milchherstellung weggenommen werden, damit Menschen die Milch trinken können. Manche Kinder, die das erste Mal Hühner sehen, sagen: „Guck mal, da sind Chicken Wings!“ Sie haben am Anfang gar keinen Bezug dazu, dass das Lebewesen sind.
Wir bieten Projekte an, bei denen Kinder an mehreren Tagen das Institut besuchen und sich um die Hühner kümmern. Da sieht man, wie sich das wandelt. Am Ende halten sie die Hühner auf ihrem Arm und rufen sie bei ihren richtigen Namen.
Dieser Text ist zuerst in der Zeitschrift radius/30 erschienen. (Ausgabe Januar/Februar 2023)