In der Online-Enzyklopädie Wikipedia dürfen alle mitmachen und schreiben. Der Großteil der Autor:innen sind allerdings Männer. Einige Ehrenamtliche aus Hannover wollen das ändern. Ein Besuch im Büro in der Innenstadt.
Popsängerin Lena Meyer-Landrut, die politische Theoretikerin Hannah Arendt und Außenministerin Annalena Baerbock haben mindestens zwei Gemeinsamkeiten. Sie alle stammen aus Hannover – und in der Wikipedia gibt es einen Artikel über sie.
Damit zählen die drei Frauen zu den Ausnahmen. Nicht einmal ein Fünftel (17 Prozent) der Biografien in der deutschsprachigen Ausgabe der Online-Enzyklopädie handeln von weiblichen Personen. Auch unter den Schreiber:innen von Artikeln befinden sich nur wenige Frauen. Wie viele genau, lässt sich nur schwer erfassen: Viele Menschen sind auf der Plattform anonym unterwegs. Schätzungen und Umfragen gehen von einem Frauenanteil von zehn bis 15 Prozent aus.
Eine davon ist Bärbel Miemietz. Eine Wendeltreppe führt die vier Stockwerke hinauf ins Wikipedia-Büro in der Andreaestraße in der Innenstadt. Dort sitzt die Ruheständlerin an ihrem Laptop und tippt, während neben ihr eine Tasse Kaffee allmählich erkaltet. Sie engagiert sich ehrenamtlich in der hannoverschen Gruppe der Online-Enzyklopädie.
„Frauen sind in der Wikipedia nicht sichtbar genug“, sagt Miemietz. Die hannoversche Gruppe will das ändern. Sie bietet Workshops speziell für Frauen an. Interessierte lernen darin, wie das Arbeiten an der Wikipedia und den zahlreichen Schwesternprojekten wie Wikimedia Commons und Wikidata funktioniert. Die etwa 15 Ehrenamtlichen schreiben immer wieder Wikipedia-Artikel über Frauen, die einen besonderen Bezug zu Hannover haben, und fotografieren nach Frauen benannte Straßen. Außerdem setzen sie sich gegen Sexismus auf der Plattform ein und achten auf geschlechtergerechte Sprache.
„Wenn ich vom ‚Mädchennamen‘ einer Frau lese, kriege ich Pickel“, sagt Miemietz und verzieht ihr Gesicht. In vielen Wikipedia-Artikeln hat sie den Begriff durch „Geburtsname“ ersetzt. Ihr ist klar, dass die meisten Menschen das Wort aus Unwissenheit benutzen und nicht, um Frauen zu diskriminieren. Dennoch sei es sexistisch – und ein gutes Beispiel dafür, warum es wichtig ist, dass mehr Frauen in der Wikipedia schreiben. „Ein Großteil der Welt wird dort aus der Sicht von Männern dargestellt“, sagt die Autorin. Würden mehr Frauen mitarbeiten, wären auch ihre Perspektiven präsenter.
Im Nebenzimmer tippt Bernd Schwabe. Er ist einer der umtriebigsten Wikipedia-Autor:innen in der Stadt. Mehr als 4000 Artikel hat er bereits verfasst und dafür das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Seine Infos findet er vor allem in der Sekundärliteratur. In einem kaum zehn Quadratmeter großen Zimmer hinter dem Konferenzraum hat er eine Bibliothek eingerichtet, die alle Autor:innen von Wikipedia Hannover nutzen dürfen. Bis zur Decke reihen sich Bücher in Regalen aneinander.
„Ich finde, eigentlich sind Wikipedia-Artikel wie Kompositionen, an denen nachträglich alle mitschreiben können", sagt er. Außerdem fasziniert ihn die Vielfalt. Ob Infos zu einem Dinosaurier oder der Namensgeberin des Stolpersteins vor der eigenen Haustür: Das alles findet man in der Online-Enzyklopädie, wenn jemand darüber geschrieben hat. „In der Wikipedia sollte kein Wissen ausgeschlossen werden“, sagt Schwabe.
Zwar gibt es auf der Plattform Kriterien, die festlegen, ob eine Person oder ein Thema relevant genug für einen Artikel ist. Diese seien zwar wichtig, aber eben auch größtenteils von Männern definiert worden, erklärt der Autor. „Wir brauchen viel mehr Inklusion auf Wikipedia. Und dafür sind Frauen sehr wichtig.“
Warum Wikipedia kaum Frauen für sich begeistern kann, dazu gibt es mehrere Theorien. Zum einen ist die Plattform extrem umfangreich, nicht nur, was die Fülle an Wissen angeht. Zu jedem Artikel sammelt Wikipedia diverse Statistiken und archiviert die Diskussionen der Nutzenden über Änderungen. Das ist wichtig, denn Wikipedia soll demokratisch sein – die Masse an Infos erschlägt Neulinge aber völlig.
Außerdem gilt die Diskussionskultur in der Wikipedia als rau. Teile der Community sind sexistisch und nicht besonders freundlich Neulingen gegenüber. Immer wieder trifft man auf Menschen, deren primäres Ziel es ist, Recht haben zu wollen, statt als Team Wissen aufzubereiten. Das kostet – zusätzlich zur umfangreichen Recherche – Zeit.
Frauen haben davon immer noch weniger als Männer, meint Miemietz, die vor ihrer Rente als Gleichstellungsbeauftragte an der Medizinischen Hochschule Hannover arbeitete. „Zwar gibt es mittlerweile viele junge Männer, die eine gleichberechtigte Partnerschaft führen wollen“, sagt sie. Doch leider hätten Frauen mit Care-Arbeit für Haushalt und Kind meist immer noch mehr zu tun als ihre Partner. Da bleibt wenig Muße für so ein aufwendiges Hobby wie Wikipedia.
Auch Miemietz fand erst vor zwei Jahren als Rentnerin zur Plattform. Ihr Antrieb: Über all die spannenden Forscherinnen und Medizinerinnen schreiben, die sie während ihres Berufslebens kennengelernt hatte. Ihren ersten Wikipedia-Artikel verfasste sie über Ellen Schmidt, die erste Rektorin der Medizinischen Hochschule Hannover. Es folgten noch viele weitere Texte. Für die Recherche nutzt sie Fachliteratur, die auch jetzt in der Rente noch die Regale in ihrem Zuhause füllt, sucht online nach Infos und immer wieder mal auch in einer Bibliothek. „Die Angabe von Quellen ist das A und O bei Wikipedia“, sagt Miemietz.
Momentan liegt ihr Fokus allerdings auf der Fotografie. Zuletzt fotografierte sie Heiligenfiguren in einem Franziskanerkloster. „Gucken Sie mal hier, diese Frau, die trägt ihre Brüste auf einem Tablett vor sich her“, sagt die Wikipedia-Autorin. Ein Diaprojektor wirft das Foto auf eine Leinwand im Büro in der Andreaestraße.
Miemietz hat gerade ein Online-Lexikon entdeckt, in dem christliche Heilige mit ihren Attributen abgebildet sind. Nun kann sie dem hochgeladenen Foto eine Beschreibung hinzufügen, es handelt sich wohl um die Heilige Agatha von Catania. „In der Wikipedia und auch bei Wikimedia Commons können aber alle mitmachen. Falls sich also jemand richtig gut mit Kunstgeschichte auskennt, kann er oder sie die Beschreibung jederzeit erweitern oder korrigieren“, erklärt sie.
Genauso wie Schwabe ist sie der Ansicht: Für die Wikipedia kann grundsätzlich alles interessant sein. Schließlich geht es darum, Wissen aufzubereiten und zu bewahren. Zu sowjetischen Zeiten besuchte Miemietz die ukrainische Hafenstadt Odessa. Kürzlich lud sie die jahrzehntealten Bilder in die Enzyklopädie hoch. „Es wäre toll, wenn alle Leute ihr Wissen teilen. Was man selbst weiß, kommt einem meist selbstverständlich vor. Aber es ist immer etwas dabei, was andere nicht wissen und was es sich zu teilen lohnt.“
Dieser Text ist zuerst in der Zeitschrift "radius/30" erschienen. (Ausgabe "Herbst"/03/2022)
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