Monate warten, bis die Therapie beginnt: Für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland ist das nur allzu oft Realität. Zwei Betroffene erzählen, wie sie sich während der Suche fühlen und wie sich das Warten auf ihre Gesundheit auswirkt.
Monatelang warten, bis die Psychotherapie beginnt: Für viele Menschen in Deutschland ist es ein zäher Prozess, den es erst mal zu überstehen gilt. Bis ein freier Platz gefunden ist, haben Betroffene mit psychischen Erkrankungen oft Dutzende Therapeutinnen und Therapeuten durchtelefoniert – und zahlreiche Absagen verkraften müssen. Wie wirkt sich die Wartezeit auf die Gesundheit aus? Leiden Beziehungen zu Freundinnen, Freunden und Familie darunter? Wie fühlt es sich an, so lange nach Hilfe zu suchen?
Zwei Betroffene aus der Region Hannover berichten, wie es ihnen während ihrer monatelangen Suche nach einem Therapieplatz ergangen ist. Da es sich um ein sehr persönliches und sensibles Thema handelt, haben wir die Namen der beiden Männer in diesem Text geändert.
Die lange Suche nach einem Therapieplatz
Henning*: „Hätte ich eher in die Klinik gekonnt, wäre ich nicht wieder so schlimm in eine depressive Episode abgerutscht“
„Ins Familienleben hatte ich einen schwierigen Start. Unser Sohn war ein Schreikind und meine Frau hatte eine postnatale Depression. Beide aufzufangen, aber selbst nicht mit der Situation zurechtzukommen und eigene belastende Themen, das hat mich in die Depression getrieben.
Ich hatte Wutausbrüche, habe meine Frau wegen Kleinigkeiten angeblafft. Ich war antriebslos und konnte mich nicht konzentrieren. Das Krasseste war, dass ich für meinen Sohn gar nichts empfinden und keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Das war nicht schön. Für mein Kind war das ganz sicher nicht gut.
Also entschied ich mich für eine Therapie. Das erste Mal, im Jahr 2015, ging es verhältnismäßig schnell. Das lag auch daran, dass ich über die Therapeutin meiner Frau einen Kontakt vermittelt bekam. Ich habe damals zwei, drei Therapeuten abtelefoniert und hatte direkt zwei Erstgespräche. Bei einer Therapeutin hat die Chemie gestimmt. Innerhalb eines Monats hatte ich einen Platz.
Bis ich die Therapie gemacht habe, habe ich keine Gefühle gespürt, nur Leere. Natürlich habe ich mich um meinen Sohn gekümmert. Aber ich konnte mich nicht über sein Lachen freuen, nicht über den ersten Schritt. Wie schön das sein kann, habe ich – auch dank der Hilfe durch die Therapie – erst bei meinem zweiten Kind erlebt.
Vier Monate auf Klinikplatz warten
Eine Zeit lang ging es mir ganz gut. Durch die Pandemie haben sich meine Beschwerden wieder verschlimmert. Im Jahr 2020 entschied ich, mich in einer psychosomatischen Klinik behandeln zu lassen. Drei oder vier Monate musste ich bis zur Einweisung warten.
In dieser Zeit habe ich versucht, umzusetzen, was ich in der vorherigen Therapie gelernt habe. Zum Beispiel: mich von heftigen Emotionen durch einen starken Reiz wie das Barfußlaufen auf spitzen Steinen abzulenken. Oder: bewusstes Atmen. Prioritätslisten anlegen. Tagespläne machen. Aber je länger ich warten musste, desto schwerer fiel es mir, die gelernten Verhaltensweisen umzusetzen.
Hätte ich eher in die Klinik gekonnt, wäre ich nicht wieder so schlimm in eine depressive Episode abgerutscht. Das ist eine Konsequenz des Wartens. Was passiert, wenn ich jetzt Hilfe brauche, aber sie nicht bekommen kann? Die Situation verschlechtert sich.
Mehr als 60 Therapeuten angerufen
Die Klinik hat mir empfohlen, direkt nach dem Aufenthalt eine ambulante Therapie zu machen. Aber es war super schwer, jemanden zu finden. Obwohl ich sogar im Vergleich zu anderen eher Glück hatte: Meine Suche, die sogar von unserer Familienhilfe vom Jugendamt unterstützt wurde, dauerte nur vier Monate. In dieser Zeit hatte ich wieder neue depressive Episoden.
Diese Therapeutin ist nun in Elternzeit gegangen. Seit Anfang des Jahres bin ich, abermals mit Unterstützung der Familienhilfe, wieder auf der Suche nach einem Therapieplatz. Mehr als 60 Therapeutinnen und Therapeuten habe ich abtelefoniert. Wen ich angerufen habe und noch anrufen muss, trage ich in eine Excel-Liste ein. Mittlerweile habe ich meinen Suchradius erweitert. Alles, was innerhalb von 45 Minuten mit dem Auto erreichbar ist, ist okay.
Zur Krisenintervention nehme ich aktuell an einem Programm meiner Krankenkasse teil. Auf den ersten Termin musste ich zwei Monate warten. Zweimal im Monat spreche ich nun mit einer Coachin. Das ist echt gut. Dass meine Frau sensibel mit mir umgeht, hilft mir auch sehr. Außerdem habe ich die Stunden in meinem Job reduziert. Vollzeit schaffe ich gerade nicht, auch wenn ich das gern will.
„Anrufen ist für mich eine schwer zu bewältigende Aufgabe“
Dass die Familienhilfe vom Jugendamt einen Teil der Anrufe übernimmt, hilft mir sehr. Viele Therapeuten sind nur an bestimmten Wochentagen in engen Zeitslots erreichbar. Ich kann mich aber nicht immer zu genau der Zeit aufraffen. Schließlich habe ich eine psychische Erkrankung, bei der ich sowieso schon keinen Antrieb für irgendetwas habe. Das Anrufen ist für mich eine schwer zu bewältigende Aufgabe.
Immer wieder werde ich am Telefon mit Ablehnung konfrontiert. Wie viele Therapeuten hast du am Telefon, die dir sagen: Nein, ich nehme niemanden mehr auf die Warteliste, die ist schon so lang. Oder du erzählst am Telefon immer wieder deine Krankheitsgeschichte und bekommst statt zeitnaher Hilfe nur einen Platz auf der Warteliste. Das ist belastend.
Ich würde mir wünschen, dass es für alle Menschen, die eine Psychotherapie brauchen, mehr Unterstützung bei der Suche gibt. Außerdem muss in der Gesellschaft ein größeres Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie viele psychisch Kranke es gibt und dass es mehr Kapazitäten braucht, um sie zu behandeln.
Ich selbst hatte seit Anfang des Jahres ein einziges Erstgespräch. Dort hat leider die Chemie nicht gestimmt. Ich habe es wirklich versucht, mit dem Therapeuten zu arbeiten, bis zur letzten probatorischen Sitzung. Denn ich wusste, wenn ich ihm absage, stehe ich wieder vor dem Nichts. Aber wenn die Beziehung zum Therapeuten nicht stimmt, bringt es nichts. Da lasse ich den Platz lieber jemand anderen, der gut mit genau diesem Therapeuten kann.“
Henning Doser (*Name von der Redaktion geändert) ist Anfang 40 und wohnt in der Nähe von Hannover. Er arbeitet in der IT-Branche. Doser ist verheiratet und lebt mit seiner Frau, seinem Sohn (8) und seiner Tochter (4) zusammen.
Kurz vor der Klinik in der Notaufnahme
Fabian*: „Nur vier Monate zu suchen, das ist keine Selbstverständlichkeit“
„Vor drei Jahren war ich sehr depressiv. Mein gesamter Alltag hat nicht mehr funktioniert. Das Studium musste ich pausieren. Ich war von den kleinsten Tätigkeiten überfordert, hatte kaum Energie. Die Wohnung sah furchtbar aus. Wäsche blieb liegen, Geschirr stapelte sich. Hobbys wie PC spielen oder klettern machten mir keinen Spaß mehr.
Als Erstes bin ich zu meiner Hausärztin gegangen. Ich entschied, einen Platz in einer psychosomatischen Klinik zu suchen. Um einen zu finden, musste ich viel herumtelefonieren. Das war damals gar nicht so ein großes Problem für mich. Es ging mir so schlecht, und diese Situation wollte ich unbedingt ändern. Ich landete recht schnell auf mehreren Wartelisten. Das war in diesem Moment ein gutes Gefühl. Ich dachte: Okay, jetzt muss ich nur noch einen gewissen Zeitraum überstehen, bis es losgeht. Ich habe etwas in der Hinterhand.
„Warten ist eine perfide Sache“
Das Warten war trotzdem extrem anstrengend. Kurz, bevor ich Bescheid bekommen habe, dass mein Aufenthalt nächste Woche anfängt, hatte ich einen absoluten Tiefpunkt. Meine letzten Kräfte waren aufgezehrt. Weil ich suizidale Gedanken hatte, fuhr ich in eine Notaufnahme. Ich hatte Angst, dass der Moment kommt, in dem ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe. In der Notaufnahme hat mich eine Ärztin gut beraten und zum Glück habe ich nichts gemacht.
Aber mein Beispiel zeigt, dass diese Wartezeiten auf Therapieplätze eine perfide Sache sind. Die Leute starten ja nicht mit einer guten Energiereserve rein in diese beschwerliche Zeit. Ich fände eine Begleitung während der Überbrückungszeit gut. Es gibt ja einige Angebote, aber bei so vielen verschiedenen Stellen. Ein gemeinsames Netzwerk wäre toll und die direkte Weitervermittlung Hilfesuchender an verschiedene Institutionen.
Auch für Angehörige wäre das sicherlich entlastend. Meine Freundinnen und Freunde haben mich unglaublich viel unterstützt. Genauso wie meine Eltern sorgten sie sich aber. Das Umfeld leidet mit. Niemand möchte sehen, dass es einer Person, die einem wichtig ist, so schlecht geht. Aber sie können ja auch nicht so viel tun, das eigentliche Problem für den anderen nicht lösen. Ein gewisses Maß an Hilflosigkeit ist da.
Ich war zehn Wochen in einer Tagesklinik. Danach hatte ich Glück. Eine der Therapeutinnen in Ausbildung beendete ihren Job in der Klinik zeitgleich zum Ende meines Aufenthalts. Danach konnte ich bei ihr Therapiestunden machen. Nach einem Jahr hatte sie ihre Ausbildung allerdings fertig und diese Möglichkeit fiel weg – der Therapieprozess war bei mir aber noch nicht abgeschlossen.
„Es ist ein beschwerlicher Weg“
Dennoch habe ich die Suche nach einem neuen Platz erst ein wenig verschleppt. Mir ging es besser, aber auch nicht so richtig gut. Es war in dieser Situation schwierig für mich, Telefonlisten anzulegen, Leute abzuklappern und mir etliche Absagen zu holen. Denn das ist ja die Realität, immer wieder zu hören: Wir haben keine Plätze. Es gibt keine Warteliste. Hier machen wir nur Privatpatientinnen und -patienten. Es ist ein beschwerlicher Weg, überhaupt Rückmeldungen zu bekommen.
Nach etwa drei Monaten merkte ich, dass ich weiter Therapie brauche. Ich schätze, ich habe 30 bis 40 Therapeutinnen und Therapeuten angerufen. Wer wann erreichbar ist, habe ich in Listen notiert. Diese Zeitslots sind ja sehr unterschiedlich und eng. Nach sieben Monaten hatte ich einen Platz in einer Gruppentherapie. Damit bin ich schon gut dabei. Nur vier Monate zu suchen, das ist keine Selbstverständlichkeit.
In diesem Jahr habe ich meine Bachelorarbeit im Fach Soziale Arbeit geschrieben. Außerdem habe ich eine neue Diagnose bekommen: ADHS. Auf diese Störung ist meine Gruppentherapie nicht ausgelegt. Da ich auch depressive Episoden habe, hilft sie mir trotzdem. Ich werde sie erst einmal weitermachen. Auch deshalb, weil es sehr schwierig sein wird, einen freien Platz bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu finden, der oder die auf ADHS spezialisiert ist.“
Fabian Schönwald (*Name von der Redaktion geändert) ist 28 Jahre alt, hat Soziale Arbeit studiert und lebt in einer WG in Hannover.
Informationen: Hilfe während der Wartezeit
Es gibt zahlreiche Angebote, die Menschen mit psychischen Erkrankungen Unterstützung bieten – auch wenn diese keine Psychotherapie ersetzen. Eine Möglichkeit ist es, psychosoziale Beratungsstellen in der eigenen Stadt aufzusuchen. Auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein. Rund um die Uhr und kostenfrei ist die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800 / 11 10 111 erreichbar und zu bestimmten Zeiten auch via Chat. Relativ neu sind Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Dabei handelt es sich um Apps oder browserbasierte Programme, die bei zahlreichen Krankheiten unterstützend wirken. Es gibt bereits einige DiGA gegen psychische Erkrankungen. Ärztinnen und Ärzte können ein Rezept für eine DiGA ausstellen. Die Kosten trägt die gesetzliche Krankenkasse. Außerdem bieten viele Krankenkassen eigene Kurse oder Onlinetherapie für ihre Versicherten an.
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