Silke und Luise trennen zwei Stockwerke. Florian und Rebecca sagen, sie brauchen viel Freiheit. Die Paare leben „Living apart together“ – also nah beieinander, aber jede und jeder in seiner Wohnung. Nicht als Notlösung, sondern aus freien Stücken. Warum?
An Silkes* Schlüsselbund baumeln Schlüssel für zwei Wohnungen. Mit dem einen schließt sie ihre Maisonettewohnung im vierten Stock auf. Mit dem anderen öffnet sie das 55 Quadratmeter große Zuhause ihrer Partnerin Luise*. Die beiden Frauen leben in der gleichen Stadt, im gleichen Haus, aber in unterschiedlichen Wohnungen – mit Absicht. „Wir legen beide Wert auf unsere Unabhängigkeit. Auch, wenn wir uns in elf Jahren Beziehung noch nie richtig doll gestritten haben: Wir finden es wichtig, dass jede jederzeit in ihre eigene Wohnung gehen könnte“, sagt Silke.
In den Sozialwissenschaften gibt es einen Fachbegriff für die Art, wie Silke und Luise wohnen: „Living apart together“ (LAT). Damit sind Paare gemeint, die in der gleichen Stadt, dem gleichen Viertel oder wie die beiden Frauen sogar im gleichen Haus leben. Nur, jede und jeder hat eine eigene Wohnung. Und: Es handelt sich um keine Notlösung oder temporäre Fernbeziehung. Beide haben sich aktiv für zwei Wohnungen oder Häuser entschieden.
Als eine Wohnung zwei Stockwerke unter Silkes Zuhause frei wurde, zog Luise dort ein. „Die ‚Fernbeziehung‘ vorher zwischen zwei Stadtteilen war doch irgendwie unpraktisch“, erzählt Silke und lacht. Denn das hieß: Sachen wie Wechselklamotten oder Bücher von einer Wohnung in die andere tragen. Das muss jetzt zwar auch manchmal noch sein. Aber die Distanz beträgt nur noch ein paar Treppenstufen und keine Fahrt mit dem Rad quer durch die Großstadt. Trotzdem hat jede ihren ganz persönlichen Rückzugsort. Wenn die 49-jährige Silke und die 53-jährige Luise Zeit für sich alleine brauchen, können sie sich sicher sein: Meiner Partnerin begegne ich weder in Bad noch in Küche.
Forschung und Zahlen zu „Living apart together“
Zum Thema „Living apart together“ gibt es hierzulande nur wenig wissenschaftliche Forschung. Was Forschende aber herausgefunden haben: Im Vergleich zu vor einigen Jahrzehnten entscheiden sich immer mehr Menschen für „Living apart together“. Die Gründe dafür seien vielfältig. In einem Beitrag in der Zeitschrift für Familienforschung (2012) schreibt Nadia Lois über ihren Versuch, Partnerschaften zu typisieren, bei denen die Paare getrennt wohnen. Manche machen das primär deshalb, weil das Geld fehlt, besonders junge Menschen. Für andere hat die Karriere Priorität; sie wohnen lieber getrennt, als sich im gleichen Ort einen Job zu suchen und sind oft sehr glücklich damit. Es gibt ferner Personen, die das Zusammenziehen mit dem Partner oder der Partnerin als Einschränkung der eigenen Autonomie erleben. Dass „Living apart together“ von manchen Menschen tatsächlich als ideale Form der Beziehung angesehen wird, konnte Lois in ihrer Analyse nicht beweisen.
Wie viele Menschen hierzulande in einer Liebesbeziehung sind, aber nicht zusammenwohnen, ist unbekannt. Aus Sicht des Bundesamtes für Statistik sind Partner, die nicht unter einem Dach leben, quasi Singles. Wer nicht verheiratet, geschieden oder verwitwet ist, nicht in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft lebt oder nicht mit dem oder der Geliebten die Wohnung teilt, muss bei der Zensus-Umfrage „ledig“ ankreuzen. Eine Studie, die beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zu finden ist, liefert immerhin Anhaltspunkte. Sie basiert auf Zahlen aus den Jahren 2008 bis 2010. Damals lebten weniger als jede und jeder Fünfte im Alter von 25 bis 27 Jahren in einer bilokalen Beziehung – also nicht im gleichen Haushalt. Bei den 35 bis 37 Jahre alten Menschen wählte nur noch knapp jeder 16. ein ähnliches Modell wie Silke und Luise.
Warum „Living apart together“ sich lohnt
Die beiden Frauen finden „Living apart together“ vor allem auch eines: praktisch. In ihrer Wohnung hat Luise Platz für Sport. In Silkes Wohnung kochen die beiden. „Luise hat ihren Herd glaube ich noch nie benutzt. Der Kühlschrank ist gar nicht angeschlossen“, sagt Silke. Meist schlafen die Frauen in einem Bett. Aber nicht immer: Luise arbeitet im Schichtdienst und findet alleine in ihrer Wohnung manchmal mehr Ruhe als oben bei Silke. Jede putzt ihr Reich selbst. „In einer gemeinsamen Wohnung würden wir uns darüber garantiert streiten“, meint Silke. „Meine Wohnung ist mir ganz wichtig. Ich möchte da keine Kompromisse machen. Luise geht es genauso.“ Weder beim Putzplan, noch bei der Art, wie sie eingerichtet ist.
Silke denkt aber auch an später. „Sollte die Beziehung mit Luise mal in die Brüche gehen – das kann passieren, ich bin mit Ende 40 alt genug, um das zu wissen – dann muss ich nicht auf einmal ausziehen und mein ganzes Leben umkrempeln.“
Paartherapeut: „Viel Vertrauen haben“
Auf diese Weise auf die Partnerschaft zu blicken, spricht für eine gute Selbstfürsorge. Sind Partner, die „Living apart together“ leben, eher reflektierte Menschen? So pauschal kann Josef Sözbir das nicht beantworten. Aber der Hamburger Paartherapeut sagt: „Ich glaube, dabei handelt es sich um Menschen, die sehr viel Vertrauen haben – in sich und in den Partner.“ Eine Beziehung, das sei in erster Linie ein Gefühl. „Und wie wir die Beziehung definieren und ausleben, das ist Verhandlungssache“, sagt der Experte.
Wie in jeder Paarbeziehung sei es auch bei „Living apart together“ wichtig, klar und transparent miteinander über die eigenen Bedürfnisse zu sprechen. „Jeder sollte Verantwortung für die eigene Entwicklung übernehmen“, sagt er. Damit ist das Weiterentwickeln als Paar genauso gemeint wie das persönliche Wachstum. Nur, wer Verantwortung für das eigene Handeln übernehme, könne miteinander auf Augenhöhe sprechen und das nötige Maß an Empathie zeigen.
„Living apart together“ kann also für Paare wunderbar funktionieren – wenn beide dieses Modell wirklich leben wollen. Macht der eine nur mit, weil die andere es will, wird dieser Konflikt die Beziehung irgendwann wahrscheinlich belasten. Und: Auf Augenhöhe miteinander sprechen funktioniert nur, wenn beide ehrlich zu sich sind und klar äußern können, was sie fühlen und wollen. Sözbir rät, immer mal wieder zu reflektieren, ob diese Weise, eine Beziehung zu führen, noch die richtige ist. „Eigentlich müssten wir das mit jeder Art von Beziehung machen“, überlegt der Paartherapeut.
Für den Experten ist außerdem klar: Wie erfüllend eine Liebesbeziehung ist, hängt nicht davon ab, ob Menschen sich eine Wohnung teilen. „Es gibt Paare, die sind seit 20 Jahren zusammen, wohnen in einem Haus und haben sich völlig auseinander gelebt. Die kommen in meine Beratung und sagen: Ich weiß gar nicht mehr, wer hier vor mir sitzt“, erzählt er.
Zwei Wohnungen direkt nebeneinander
Das kann natürlich auch in einer „Living apart together“-Beziehung passieren. Hier sieht Florian* den größten Nachteil. „Manchmal kann man sich zu gut aus dem Weg gehen. Man muss aufpassen, dass man nicht zu sehr für sich lebt“, sagt der 43-Jährige.
Florian und seine Freundin Rebecca* sind rund zehn Jahre jünger als Silke und Luise. Der 43-Jährige und die 37-Jährige leben seit eineinhalb Jahren „Living apart together“ in einer mehrstöckigen, ehemaligen Villa in einer Kleinstadt. Ihre zwei Wohnungen, je etwa 75 Quadratmeter groß, sind von einem gemeinsamen Flur aus zu erreichen. Die beiden sind seit fünf Jahren ein Paar. Erst zog Rebecca für den Job weg. Als ein Dreivierteljahr später die Wohnung neben ihr frei wurde, kam Florian hinterher.
Weniger Kompromisse machen
„Meine Freundin und ich sind Menschen, die beide viele Freiheiten brauchen“, sagt Florian. Das fange schon beim Einrichten der Wohnungen an. Rebecca sammelt Möbel im Stil der 1920er-Jahre, die – in Florians Worten – „ein bisschen abgenutzt“ aussehen. In seiner Wohnung stehen dagegen „schicke Echtholzmöbel“.
Wenn Florian seine Freunde einlädt, muss er nicht mit Rebecca absprechen, ob ihr das passt. „Während wir ein bisschen Party machen, kann sie sich in ihre eigene Wohnung zurückziehen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich glaube, dieser Rückzugsraum nimmt sehr viel Druck aus der Beziehung.“ Auch bei ganz banalen Alltagsfragen: etwa wenn er abends Fußball und sie lieber einen Film gucken möchte. „Dann sitzt jeder in seinem Wohnzimmer. Man muss nicht dauernd Kompromisse finden“, sagt Florian.
Dauernd vielleicht nicht. Doch auch, wer in getrennten Wohnungen lebt, müsse Kompromisse eingehen, sagt Paartherapeut Sözbir – nur eben andere. „Ich muss zum Beispiel akzeptieren, dass der Andere nur zu bestimmten Zeiten bei mir ist“, erklärt er.
Gemeinsam leben in zwei Wohnungen
Florian und Rebecca lassen ihre Schlüssel von außen an den Wohnungstüren stecken. Er wollte eigentlich schon die Knäufe gegen Klinken austauschen. Beide dürfen immer das Zuhause des anderen betreten – außer einer von beiden bittet aktiv um Ruhe und Zeit für sich. Florian kocht meist für beide. Fast immer schläft das Paar in einem der zwei Betten gemeinsam. „Außer, einer ist krank, hat eine Schniefnase und schnarcht“, sagt Florian und lacht.
Eigentlich, überlegt er, könne man ihre Form des Wohnens mit einem PS-starken Auto vergleichen: „Du kaufst dir ein schnelles Auto, weil du weißt, du könntest damit 200 km/h auf der Autobahn fahren. Aber am Ende machst du das gar nicht so oft. Das Gefühl, du könntest, wenn du wolltest, gibt aber schon das Gefühl von Freiheit.“
*Namen von der Redaktion geändert.