Pendeln nervt. Die Angst, den Anschluss zu verpassen, ist immer da – und zwar nicht nur an Bus und Bahn. Ständig ist man unterwegs und kommt doch nie richtig an. Ein Essay darüber, was auf der Strecke bleibt.
Die letzten 46 Schultage habe ich einzeln im Kalender abgestrichen. Nicht etwa wegen Mobbing oder Prüfungsangst. Ich freute mich darauf, endlich nicht mehr jeden Tag über zwei Stunden vorbei an Äckern, Wäldern und Backsteinhäusern mit dem Bus aus meinem Dorf in die Kleinstadt und zurück zu tuckern. Seit der elften Klasse bin ich Pendlerin. Daran hat auch die Uni nichts geändert. Irgendwann habe ich jede Kleinigkeit daran gehasst: die unbequemen Sitze, das Eingezwängt-Sein zwischen Fremden und dass mir von langen Busfahrten übel wird - vor allem aber die verlorene Zeit.
So wie mir geht es vielen Deutschen. 17 Millionen Pendler gibt es laut der Bundesagentur für Arbeit. Rund 8,5 Millionen davon brauchen mehr als eine Stunde pro Weg zur Arbeit. Pendeln frisst Zeit. Deshalb habe ich versucht, die Zeit im Schulbus zu nutzen. Auf dem Heimweg quatschte ich nicht nur mit Freunden, sondern löste auch Matheaufgaben und las Pflichtlektüren wie „Faust" oder „Faserland". Das klappte eher mäßig. Schulbusse auf dem Dorf sind leider meist überfüllt und laut.
Tage, an denen ich kein öffentliches Verkehrsmittel von innen sah, gab es fast nie. Denn mein Freund wohnte im Harz und ich fuhr alle zwei Wochen knapp drei Stunden mit den Regional-Bahnen zu ihm. Stets startete ich direkt nach der Schule. Dass ich meinen Rollkoffer durch Klassenzimmer zerrte, steht sogar im Abi-Buch. Viel mehr haben die meisten meiner ehemaligen Mitschüler wohl auch nicht mit mir verbunden. Schließlich war ich immer als Erste weg. Pendeln zwingt einen dazu, Prioritäten zu setzen. Die Zeit ist knapp. Die Wege sind lang. Allen und allem gerecht zu werden, ist unmöglich. Deshalb bekommt man recht bald ein Gespür dafür, was einem selbst am wichtigsten ist.
Der Zug war für mich ein Paralleluniversum
Durch meine Zeit in Zügen habe ich gelernt, mich zu organisieren und Langeweile auszuhalten. Wenn nicht gerade ein Junggesellenabschied oder eine beschwipste Kegeltruppe im Zug feierte, hatte ich meine Ruhe. In der Bahn las ich Romane, die sich zu Hause nur neben meinem Nachttisch stapelten, und hörte Alben, für die unter der Woche keine Zeit blieb. Der Zug war für mich manchmal wie eine Art Paralleluniversum, fernab vom Alltagsstress. Zeit spielte hier für einige Zeit keine Rolle. Schließlich konnte ich nicht beeinflussen, wann ich am Ziel ankommen würde.
Genau das war aber auch nervenaufreibend. Ständig fuhr die Angst mit, ob der Anschluss verpasst wird. Offenbar gibt es eine Menge Menschen, die damit ein noch größeres Problem haben als ich: In einer Studie aus dem vergangenen Jahr stellte die kanadische Wissenschaftlerin Annie Barreck aus dem Fachbereich Arbeitsbeziehungen fest, dass regelmäßiges und langes Pendeln zu emotionaler Erschöpfung, Zynismus und nachlassender Leistungsfähigkeit führen kann - alles Symptome für Burn-out.
Für mich war aber nicht der Stress der größte Nachteil. Am meisten vermisste ich das Gefühl, zu Hause zu sein. Kaum hatte ich die Klamotten aus meinem Rollkoffer in den Kleiderschrank zurück geräumt, saß ich schon wieder im Zug. Wenn wir Ferien hatten, verhandelten mein Freund und ich verbittert um gemeinsame Zeit. Jeder wollte gern ein paar Tage zu Hause sein. Aber nicht allein.
Zum Studieren zog ich nach der Schule nach Hannover. Mein Zuhause war jetzt meine kleine Wohnung in Hainholz. Ich pendelte weiter: in den Harz und in mein Heimatdorf. Dort kellnerte ich. Der gepackte Rollkoffer, den ich später durch einen Rucksack ersetzte, stand stets neben meinem Kleiderschrank. Ich schlief an jedem zweiten Wochenende bei meinem Freund. Und wenn ich unter der Woche bei meinem Nebenjob im Café arbeitete, übernachtete ich bei meinem Papa im Kinderzimmer. An drei Orten lagerte ich Kosmetik und Klamotten. Es gibt da dieses furchtbar erwachsen klingende Wort: Lebensmittelpunkt. Aber genau der fehlte mir. Ich verpasste nicht nur Anschlusszüge, sondern auch den Anschluss ans Studentenleben. Denn ich war immer noch nirgendwo angekommen.
Pendeln ist eben immer nur ein Kompromiss. Sicherlich gibt es auch Menschen wie die Medienwissenschafts-Studentin Leonie Müller. Die 23-Jährige hat sich eine Bahncard 100 gekauft und pendelt seither zwischen Köln, Bielefeld, Stuttgart, Berlin und Tübingen, wo sie studiert. In den Städten übernachtet sie bei Freunden und Verwandten. Auch eine Art zu leben - aber nicht meine.
Vor drei Monaten sind mein Freund und ich zusammengezogen. Meinen Job als Kellnerin brauche ich jetzt nicht mehr. Jetzt pendle ich nur noch zwischen unserer Wohnung im Umland, Uni und Büro-Nebenjob in Hannover. Eine Viertelstunde fährt die Bahn aus dem Kleinstadtkaff zum Hauptbahnhof. Und manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, dass die Fahrt ruhig länger dauern dürfte.
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