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Wie Blei im Globalen Süden Kinder vergiftet - und was man dagegen tun kann

Unsichtbare Gefahr Wie Blei im Globalen Süden Kinder vergiftet

Es steckt in Gewürzen, Keramik, Spielzeug: Vor allem in ärmeren Ländern wird Blei vielfach verwendet. Doch das Schwermetall ist extrem schädlich. Und am meisten leiden die Kleinsten.

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Saim ist ein Junge aus Mirzapur, einer Kleinstadt in Bangladesch. Früher sei er ein guter Schüler gewesen, erzählt seine Mutter Shaila Akhtar - bis sich in dem Ort eine illegale Batterie-Recyclingfabrik ansiedelte. "Ständig stank es" berichtet sie, manchmal habe die Familie kaum atmen können. "Nach und nach hat er immer mehr vergessen", erzählt sie über ihren Sohn. Erst spät kam sie auf die Idee, es könne am Blei liegen, das durch das Recycling freigesetzt wird. Jahrelang waren die Anwohner von Mirzapur dem Schwermetall ausgesetzt. Viele Kinder leiden seitdem unter Bleivergiftungen. Auch Saim, der in einem Film der Hilfsorganisation Pure Earth zu sehen ist. Als er gefragt wird, in welche Klasse er geht, kann er sich nicht erinnern.

Verursacht durch eine unsichtbare Gefahr, fallen Bleivergiftungen zunächst kaum auf. Doch wer über einen längeren Zeitraum Blei aufnimmt, riskiert langfristige Schäden im ganzen Körper. Besonders für Kinder ist das Metall gefährlich. Unicef schätzte in einem 2020 erschienenen , dass 815 Millionen Kinder weltweit deutlich zu hohe Bleikonzentrationen im Blut haben, die meisten davon im Globalen Süden. Laut einer kürzlich veröffentlichten Analyse der Weltbank büßten Kinder unter fünf Jahren durch Blei allein im Jahr 2019 schätzungsweise rund 765 Millionen IQ-Punkte ein.

Vor allem in ärmeren Ländern wird das Schwermetall vielfach verwendet: in Gewürzen für stärkere Farben, in Kochutensilien aus Keramik, Kosmetik, Spielzeug, Wandfarbe. Kinder und Erwachsene nehmen es also über Essen auf, über Rückstände an den Händen, über die Atmung bei abblätternder Farbe. Für eine aktuelle Studie der NGO Pure Earth untersuchten Forschende 5000 Alltagsgegenstände und Lebensmittel auf ihren Bleigehalt in 25 Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Die Ergebnisse zeigen: Der Bleigehalt übersteigt oft die zugelassenen Grenzwerte und Richtlinien, so etwa bei Spielzeug in 13 Prozent der untersuchten Fälle.

Blei stört die Hirnentwicklung von Kindern nachhaltig und das schon in vermeintlich kleinen Dosen. Dies führt zu kognitiven Einschränkungen wie Lernproblemen und Verhaltensstörungen, teilweise wird es auch mit Kriminalität in Zusammenhang gebracht. Das ist für Kinder in ohnehin benachteiligten Kontexten fatal: Ihre bereits geringen Startchancen werden weiter verschlechtert. Sind Kinder lange viel Blei ausgesetzt, kann es auch zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen kommen wie Krämpfen, Koma oder sogar zum Tod.

Auch für Erwachsene ist das Metall gefährlich: Erst im Juni veröffentlichte die American Heart Association einen , wo sie unter anderem Blei im Körper als "signifikanten Risikofaktor" für Herz-Kreislauf-Krankheiten wie Schlaganfälle bewertet. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse der Weltbank zeigt, dass allein im Jahr 2019 schätzungsweise 5,5 Millionen Erwachsene an Herz-Kreislauf-Erkrankungen starben, die darauf zurückzuführen waren, dass sie erhöhten Bleikonzentrationen ausgesetzt waren. Dabei verbleibt Blei zu einem großen Teil in den Knochen, bereits entstandene kognitive und kardiovaskuläre Schäden lassen sich nach aktuellem Wissensstand nicht wieder rückgängig machen.

Inzwischen ist klar: Es gibt zumindest für Kinder kein "" Level von Blei im Blut. Das Problem ist riesig, vor allem im Globalen Süden. Und es wird vernachlässigt. Nur wenige Nichtregierungsorganisationen konzentrieren sich darauf, über das Ausmaß der Schäden ist rar; es fehlen Daten.

Eine der NGOs, die an dem Problem arbeiten, ist das , kurz LEEP. Deren Co-Gründerin Lucia Coulter ist Ärztin. "Die Folgen von Bleivergiftungen sind nicht so einfach auf Blei zurückzuführen - außer man testet das Blut der Betroffenen oder führt anderweitig Forschung durch. Es kann also sein, dass eine Population massiv betroffen ist, und es ist einfach nicht offensichtlich", sagt sie.

Ihre Organisation hat sich auf einen Teil des Problems spezialisiert: Wandfarbe. In Farbe wird das Metall in ärmeren Ländern noch eingesetzt als Farbpigment oder zum besseren Trocknen. Für Kinder besonders gefährlich: Wände und Türen mit Bleifarbe werden angefasst. Kinder nehmen ihre Hände oft in den Mund und die Substanz dabei auf. Außerdem werden Farbpartikel eingeatmet, weil alternde Farbe nach und nach Teilchen an die Luft abgibt.

Dabei gibt es gute Alternativen, die die Hersteller statt Blei verwenden könnten. Das Problem sei allerdings vielen einfach nicht klar, berichtet Coulter. Sie erzählt beispielhaft von einem Projekt in Pakistan. "Dort gibt es bereits verpflichtende Standards. Trotzdem war nicht bekannt, ob Farbe mit Blei noch verkauft wurde. Also haben wir gemeinsam mit der Aga-Khan-Universität in Karachi eine Studie durchgeführt und Farben auf ihren Bleigehalt getestet. 40 Prozent von ihnen hatten sehr hohe Bleikonzentrationen." Daraufhin teilte die NGO die Daten mit der zuständigen Behörde. Gemeinsam veranstalteten LEEP und die Behörde einen Workshop für die Hersteller, wo sie über das Problem und Lösungsmöglichkeiten informiert wurden. "Zehn Hersteller haben in den vergangenen Monaten mitgeteilt, dass sie nun auf bleifreie Farbe umsteigen", erzählt Coulter.

LEEP arbeitet in mehr als einem Dutzend Ländern, dabei gehen sie laut Coulter immer ähnlich vor wie in Pakistan. Ein Farbexperte der NGO berät die Hersteller bei der Umstellung auf Farbe ohne Blei. So kann zumindest gefährliche Wandfarbe nach und nach ersetzt werden durch gesundheitlich sichere Farbe. Coulter nennt Blei in Wandfarbe ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem.

Aber es gibt viele weitere Quellen: Blei in Batterien etwa ist extrem gefährlich für viele Menschen in ärmeren Ländern, wo diese nicht sicher recycelt werden. Gleichzeitig lässt sich der Bestandteil nicht so leicht ersetzen.

Im Globalen Norden sind Bleivergiftungen kein großes Problem mehr, eigentlich. Aufsehen erregte vor ein paar Jahren die kleine Stadt Flint im US-amerikanischen Bundesstaat Michigan: Dort waren 2014 nach einem Wechsel in der Wasserversorgung fast 100.000 Menschen von Blei aus kaputten Rohren betroffen, das so in ihre Haushalte und Körper gelangte. Später zeigte eine , dass die Bleikonzentration im Blut der Kinder in Flint stark erhöht war. Die betroffenen Bürger wurden finanziell entschädigt. Der Vorgang erregte über Jahre öffentlich Aufmerksamkeit - und zeigt, dass auch reichere Länder durch alte Strukturen wie Rohre nicht vollständig vor dem Problem geschützt sind.

Und dennoch: Die Erfolge im Vorgehen gegen Bleivergiftungen in reichen Ländern sind beachtlich - und etwa an Tankstellen offensichtlich: Überall dort, wo auf den Zapfsäulen "bleifrei" zu lesen ist. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch keine Selbstverständlichkeit, und bleihaltiges Benzin wirkte sich auf die Gesundheit ganzer Städte aus. Seit 1996 gibt es in Deutschland nur noch bleifreies Benzin. 2021 verbot mit Algerien auch das letzte Land der Erde das Schwermetall im Benzin.

Erst nach und nach erkennt die Welt die Gefahr des Metalls für den menschlichen Körper - und verarbeitet dabei weiterhin viel Blei. "Wir brauchen verbindliche Gesetze, die auch durchgesetzt werden, und wir müssen das Bewusstsein für Bleivergiftungen weltweit auf ein Niveau bringen, das dem Ausmaß des Problems entspricht", sagt Coulter von der NGO LEEP. Die Gute Nachricht sei: "Man kann etwas tun."

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