Eine Autofahrt auf einem kurvigen Schotterweg im Südosten Spaniens: Zwischen schroffen Felswänden und dichten Kiefernwäldern entdeckt der bayerische Bartgeier-Experte Toni Wegscheider einiges an Artenvielfalt. "Ein Mufflon", sagt er. Dann Stille. "Rotwild", erklärt er, als der Fahrer das nächste Mal die Geschwindigkeit reduziert. "Das ist historischer Boden", murmelt der LBV-Projektleiter Toni Wegscheider in Gedanken an seine Bartgeier-Damen in Berchtesgaden.
Zum ersten Mal ist er dorthin gereist, wo die Geier ihren Ursprung haben. Dagmar, Recka, Bavaria und Wally: Alle in Bayern ausgewilderten Bartgeier sind in dieser abgelegenen Region geschlüpft, im größten Bartgeierzentrum Europas. Das Centro de Cría de Guadalentín liegt rund eine Autostunde vom nächsten Ort entfernt auf 1.300 Metern in Spaniens größtem Naturpark "Sierras de Cazorla, Segura und Las Villas".
Die Stille auf dem Weg zur Aufzuchtstation mag an Tonis Müdigkeit liegen. "Wir haben nachts die ganze Zeit das Handy angehabt, sind aus dem Bett geschmissen worden und ohne Frühstück los." Der Grund: Ein Anruf aus der Bartgeier-Station. Ein Küken säbelt sich unermüdlich durch die letzten Reste seiner Eischale. Es wird nicht mehr lange dauern, bis es schlüpft. Der Biologe Toni Wegscheider könnte zum ersten Mal miterleben, wie ein Bartgeier schlüpft. Nur: Wird er rechtzeitig ankommen?
Ein paar Monate zuvor in der spanischen Aufzuchtstation: Für Pakillo Rodríguez und sein fünfköpfiges Team beginnt bereits im Oktober, mit der Balz seiner sieben Bartgeier-Paare, die heiße Phase. Gibt es Konflikte zwischen den Paaren? Legen sie Eier? Und wenn ja, wie viele? All das beobachtet Pakillo über die Kameras, die in den Gehegen installiert sind. "Die Hormone gehen schon mal durch die Decke", erklärt Pakillo. "Nicht jedes Jahr verstehen sich die Geier-Paare. Deshalb müssen auch wir uns immer wieder anpassen."
Ende des letzten Jahres dann die Erleichterung: Sechs Bartgeier-Pärchen haben Eier gelegt. Ob sie diese auch selbst ausbrüten dürfen, hängt von Pakillos Einschätzung ab. Gibt es ein Problem-Pärchen, tauscht er die Eier durch Imitate und hütet die befruchteten Eier im Brutkasten. 54 Tage sind es bis zum Schlüpfen.
Acht Eier geben dieses Jahr Grund zur Hoffnung für Auswilderungsprojekte in ganz Europa. Der Bartgeier, ursprünglich in den Gebirgen Afrikas, Asiens und Europas verbreitet, gilt in den Alpen seit dem 20. Jahrhundert als ausgerottet. Nur durch Aufzucht- und Auswilderungsprojekte, wie das des andalusischen Centro de Cría de Guadalentín, leben heute wieder rund 300 der seltenen Knochenfresser in den West- und Zentralalpen. In den Ostalpen gibt es nur vereinzelt Bartgeier.
Noch sehr früh am Morgen erreicht Toni Wegscheider die abgelegene Aufzuchtstation. Für spanische Herzlichkeit zur Begrüßung bleibt nicht viel Zeit. Toni wird sofort in den "Kreißsaal" des Bartgeier-Zentrums gewunken, einen kleinen Raum, ausgestattet mit Wärmelampen, Brutkästen und Pinzetten. Am Tag zuvor hat ein Küken mit seinem Eizahn, ein Sporn auf dem Schnabel, den es eigens für den Schlupf ausgebildet hat, den ersten Sprung in die Schale geraspelt. Nach diesem Erfolg muss es Kräfte sammeln. Das kann zwölf bis sogar 60 Stunden dauern. Pakillo Rodríguez lässt das Ei dabei nicht aus den Augen. Es gilt, jede Bewegung, jedes Fiepen, gar jeden Geruch wahrzunehmen und richtig einzuordnen.
Auf die Frage, wann er denn schlafe, zuckt Pakillo nur mit den Schultern. "Jedes Ei ist Gold wert", verteidigt Toni den spanischen Kollegen, der ihn am frühen Morgen zum Schlupf gerufen hat.
Aus einem Brutkasten holt Pakillo ein frisch geschlüpftes Küken. Die Natur hat also nicht auf den Besuch aus Bayern gewartet. Es ist erst ein paar Minuten alt. Rosa Haut scheint durch ein paar nasse, graue Federn. Ein überdimensionaler Kopf schmiegt sich dicht an den Körper, der sich von den Strapazen des Schlupfs erholt, sich im Sekundentakt hebt und senkt. Toni kann seine Augen kaum von dem kleinen Lebewesen lösen, flüstert: "Das Wunder des Lebens." Und lacht leise auf.
Routiniert hebt Pakillo das Küken aus einer mit Mullbinden ausgelegten Plastikbox. Er übernimmt, was in freier Natur nun die Eltern tun würden, trocknet es, zupft die Eimembran ab, desinfiziert die Nabelschnur und legt es wieder in ein Stück Eischale. Dann heißt es endlich: durchatmen. Pakillo bedankt sich mit einem Händedruck und einem Lächeln bei seinem deutschen Geburtshelfer. Jetzt kann endlich gefrühstückt werden.