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Radikalisierung bei Jugendlichen: "Es geht immer um Perspektive"

Bildrechte: BR/SANDRA LOHSE

Die Vorfälle der Silvesternacht in Berlin lösten bundesweit Debatten über Jugendgewalt aus. In Nürnberg leisten Stadt und Vereine seit Jahren Präventionsarbeit, die zeigt: Die wenigsten sind radikal, brauchen aber "grundsolide, pädagogische Arbeit".



Eine Seitenstraße in Nürnbergs Szeneviertel Gostenhof: Lieferwagen halten vor verschiedenen Läden, dazwischen füllen sich kleine Cafés mit Studierenden. In einem Innenhof macht sich Gostenhofs Nachwuchs bemerkbar. Und mittendrin: Das Büro von Ramona Deniz Nürnberger. Sie arbeitet für den Integrations- und Bildungsverein Degrin e.V. Sie kennt die Fragen, die sich einige der Kinder im Innenhof ihres Büros wohl einmal stellen werden: "Bin ich jetzt ein bisschen türkisch und ein bisschen deutsch? Ist das in Ordnung, darf ich das sein oder ist das nicht in Ordnung?"


Zu wenig Platz für Diskussion in den Lehrplänen

Ramona Deniz Nürnberger ist Leiterin des Projekts Heroes. Sie bildet junge Männer mit Migrationshintergrund ab 15 Jahren aus, um mit Gleichaltrigen über Themen wie Identität, Feminismus und Gewalt im Namen der Ehre zu diskutieren. Das Projekt ist als Reaktion auf einen Ehrenmord im Jahr 2005 in Berlin entstanden und soll zur Gleichberechtigung, aber auch Anti-Radikalisierung beitragen.

Wenn Ramona Deniz Nürnberger über ihre Arbeit spricht, betont sie, dass die jungen Männer freiwillig dabei sind - denn sie haben Gesprächsbedarf: Die Schule sei nicht unbedingt ein Ort, an dem diskutiert werde, sagt sie.


Die Probleme: Lehrermangel und mangelnde Projektfinanzierung

Eine Möglichkeit für Jugendliche, über Werte und Meinungen zu sprechen komme sonst in den bayerischen Lehrplänen viel zu kurz, kritisiert Deniz Nürnberger. Im vergangenen Jahr haben die Jugendlichen von Heroes insgesamt rund 1.000 Schülerinnen und Schüler erreicht. "Aber das ist natürlich noch nicht genug", sagt die Projektleiterin. Diskussionen fielen immer öfter Problemen wie Lehrermangel und finanziellen Schwierigkeiten der sozialen Arbeit zum Opfer.


"Genau da braucht es noch mehr, weil wir schon sehen, dass wir sonst diese Jugendlichen allein lassen mit den Inhalten und zum Schluss wird nicht viel diskutiert und die Informationen holen sie sich aus dem Internet." Ramona Deniz Nürnberger, Projektleiterin Heroes Nürnberg mit eigenem "Netzwerker" für Radikalisierungsprävention

Ramona Deniz Nürnberger will Jugendliche erreichen, bevor sie sich radikalisieren. Daran arbeitet seit knapp fünf Jahren auch das Nürnberger Jugendamt. Christian Mätzler leitet seitdem die Koordinierungsstelle Radikalisierungsprävention.


An ihn wenden sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialer Einrichtungen, wie zum Beispiel Wohngruppen, wenn sie bei Jugendlichen Radikalisierungen befürchten. Für Christian Mätzler heißt es dann erstmal: zuhören. "Es geht bei der Arbeit mit den jungen Menschen immer um Perspektive oder fehlende Perspektive. Orientierung oder fehlende Orientierung", erklärt er.


Jugendliche wahrnehmen und Radikalisierung vorbeugen

Christian Mätzler führt Statistik über seine eigene Arbeit: Von insgesamt 190 Fällen im Jahr 2020 und 2021 waren 102 dem Thema Rechtsradikalismus und Diskriminierung zuzuordnen, 63 der religiös bedingten Radikalisierung, wie zum Beispiel Islamismus oder Dschihadismus. Dem Rest gibt Mätzler die Überschrift "Divers". 190 Fälle bedeutet jedoch nicht 190 radikale Jugendliche: 


"Über 90 Prozent meiner Fälle benötigen keinen Feuerwehreinsatz. Sondern ganz grundsolide, pädagogische, verstetigte Arbeit draußen. Das Gefühl beim Jugendlichen, dass er wirklich wahrgenommen wird." Christian Mätzler, Leiter der Koordinierungsstelle Radikalisierungsprävention


Die Koordinierungsstelle des Jugendamts arbeitet mit 60 Partnern, also Vereinen, Kirchen und anderen Einrichtungen zusammen. Dabei ist Mätzler Erstbewerter, ordnet die Gefahrenlage ein und vermittelt. "Wir nehmen uns da wirklich Zeit. Gibt es einen Anfangsverdacht, sind wir sehr vorsichtig", erklärt Mätzler. Sobald sein Team jedoch feststellt, dass von einem Jugendlichen Gefahr ausgeht, muss ein Krisenteam eingeschalten werden.


Mehr Akzeptanz und Dialog nötig

Damit sich Jugendliche keiner radikalen Gruppierung anschließen, sind Rückhalt und Stabilität wichtig - das weiß auch Ümit Sormaz, FDP-Stadtrat und Sprecher des Bürgervereins Süd. In der Südstadt beobachte er, wie sich die Fronten zwischen den Generationen verhärten und Jugendliche aufgrund ihrer Herkunft verurteilt würden: "Dann ist es ganz normal, dass sich diese Jugendlichen eine Gruppierung suchen, in der sie akzeptiert werden", erklärt Sormaz. "Das ist für diejenigen, die radikalisieren wollen, ein gefundenes Fressen." Sormaz wünscht sich deshalb, dass auf die Jugendlichen öfter zugegangen würde.


 Projekte bangen um Finanzierung

Eine Aufgabe, bei der die Jugendarbeit an ihre Grenzen stößt? Christian Mätzlers Angebot ist abhängig von der Aufmerksamkeit seiner Teams "draußen", wie er es nennt. Eine wichtige Ergänzung dazu sind soziale Projekte, wie die Jugendlichen von Heroes, die gezielt auf Schülerinnen und Schüler zugehen. Projekte wie diese seien wertvoll, sagt Mätzler, jedoch "passiert wahnsinnig viel und es verschwindet aber leider auch wieder wahnsinnig viel, weil es diese thematischen Spitzen gibt". Und von diesen thematischen Trends hänge die Finanzierung der Projekte ab.


"Das ist aus dem Grund problematisch, weil wir nicht über die Bedarfe aus der sozialen Arbeit permanent sprechen, sondern das immer wieder nur zu so einem Brandlöscher wird, wo Feuer auftauchen", sagt Ramona Deniz Nürnberger, die jährlich um die Finanzierung von Heroes bangen muss. Der nächste Schritt sei deshalb, Jugendarbeit dauerhaft auf die politische Agenda zu bringen.

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