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Abgrenzung mit Einfühlungsvermögen

Die Arbeit mit Obdachlosen und Drogenabhängigen ist oft anstrengend. Um die Belastungen gut verdauen zu können, braucht es viel Durchhaltevermögen.

Ich muss schlafen. Bitte!“, sagt ein Mann in gebrochenem Deutsch und setzt sich auf die Schlafcouch im Büro. Mit seinen Händen formt er einen Polster, um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen. „Das wollen alle anderen hier aber auch“, antwortet Veronika Kerres. Sie trägt ihn in die Warteliste ein, gibt ihm einen Bon für ein warmes Abendessen im Speisesaal der VinziRast-Notschlafstelle in Wien Meidling. Viel mehr kann die ehrenamtliche Mitarbeiterin für ihn momentan nicht tun. Denn der Andrang an diesem Septemberabend ist groß.

 

Warteliste wird länger
Bereits eine halbe Stunde vor Einlass um 18.30 Uhr stehen rund 25 obdachlose Menschen im Foyer des gelb gestrichenen Hauses im 12. Bezirk in Wien. Im Haus gibt es bis zu 55 Schlafplätze. Für zwei Euro pro Tag können Obdachlose hier 30 Tage übernachten „Die Menschen kommen zur Ruhe, erzählen ihre Sorgen und können nach einer neuen Unterkunft suchen“, erklärt Kerres. Einige Männer in der Warteschlange wollen für die Nacht „einchecken“, andere sind wie der Mann aus Afrika das erste Mal hier. Die Warteliste wird länger.  


 Menschen wegzuschicken fällt den ehrenamtlichen MitarbeiterInnen schwer. „Das ist für uns alle extrem belastend, vor allem im Herbst und Winter“, erklärt die Wienerin, die aus dem Wirtschaftsbereich kommt. Wer mit obdachlosen Menschen arbeiten will, darf keine Berührungsängste haben, muss fest im Leben verankert sein und ein Gespür dafür haben, was hilfreich ist und was nicht. „Es geht nicht um uns und unsere Vorstellungen, sondern um den anderen und seine Ressourcen.“ Die VinziRast arbeitet zum überwiegenden Teil mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. Kerres ist bereits seit einigen Jahren dabei. Am Anfang der Nachtdienste wurde sie oft krank. Sie musste lernen sich abzugrenzen, die Probleme der KlientInnen nicht mit nach Hause zu nehmen und Zeit für sich zu finden. „Ich möchte zwar weiterhin emotional berührt sein, aber nicht um den Preis meiner Gesundheit.“ Es gab Freiwillige, die aufhörten, weil sie den Spagat nicht geschafft haben.

 

Durchschnittsalter 21 Jahre 

Das Team ist bunt gemischt, hier arbeiten Krankenschwestern, SozialarbeiterInnen, PharmazeutInnen oder UnternehmerInnen. Man unterstützt sich gegenseitig. Zudem gibt es regelmäßig Supervisionen. In Wien gab es im Winter 2015 rund 900 Schlafplätze für akut obdachlose Menschen. Während der anderen Jahreszeiten sind es 300. Doch die Zahl der Menschen, die auf der Donauinsel, auf Bahnhöfen, in Abrisshäusern oder Wiener Parks nächtigen, ist höher. Überholt ist das Bild vom Obdachlosen mit Rauschebart und Bierdose in der Hand. In Betreuungseinrichtungen wie dem Haus JUCA in Wien ist das Durchschnittsalter von 27 Jahren auf 21 Jahre gesunken. Um Kontakt zu wohnungslosen Menschen zu knüpfen, braucht es intensive Beziehungsarbeit, weiß Susanne Peter von der Wiener Notschlafstelle Gruft. Ein Klient war 25 Jahre obdachlos, nächtigte in einem öffentlichen Klo auf der Donauinsel. Drei Jahre lang bekam sie ihn nicht zu Gesicht. „Wir haben durch die Klotür miteinander geredet. Kleidung oder Nahrung wollte er nicht annehmen.“ Dann trafen sie einander persönlich. Er ließ sich Dokumente ausstellen, beantragte Mindestsicherung. Heute lebt der Mann in einer Wohnung.

 

Beziehungsarbeit auf der Straße
Susanne Peter und ihr Streetwork-Team sind im Sommer dreimal pro Woche abends unterwegs, dazu kommen zwei Tagdienste auf der Mariahilfer Straße. Im Winter sind sie jeden Tag unterwegs. Sie laden obdachlose Menschen in die „Gruft“ ein, verteilen Schlafsäcke und helfen den Menschen, ihre Ansprüche zu erheben. „Ich weiß nie, was kommt, muss mich immer neu einstellen“, beschreibt Susanne Peter den Reiz der Streetwork, eines Jobs, den sie seit fast drei Jahrzehnten ausübt. Auch sie lassen die Schicksale der KlientInnen nicht kalt. Die Arbeit nimmt sie aber nicht mit nach Hause.
Wie bei der VinziRast werden in der „Gruft“ Teamklima und Supervision hochgehalten. „Der Austausch untereinander hilft ungemein“, so Peter. Das Wichtigste sei, den Draht zu den KlientInnen zu finden, mit ihnen arbeiten zu können und zu wollen. Die Klientel hat sich verändert. Früher waren obdachlose Menschen in Gruppen unterwegs, heute sind viele Einzelgänger. Zur Verständigung mit Menschen, die wenig bis gar kein Deutsch können, hat die „Gruft“ 50 Freiwillige aufgestellt, die über das Telefon in 23 Sprachen dolmetschen und so zur Beziehungsarbeit beitragen. Wichtig ist für Peter die Tatsache, dass Obdachlosigkeit vorurteilsfrei betrachtet werden sollte: „Es kann wirklich jeden treffen.“


Für MitarbeiterInnen in der Wohnungslosen- und in der Suchthilfe gelten mehrere Kollektivverträge. Ein Großteil der Beschäftigten fällt unter den „Sozialwirtschaft-Österreich-KV (SÖ-K)“. Der SÖ-K gilt für 90.000 Beschäftigte sowie über die Satzung für weitere 60.000 Arbeitende. Es ging um Vereinheitlichung: „Die Lohn- und Gehaltsniveaus waren in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jetzt gibt es ein einheitliches Niveau“, betont Verhandlerin Eva Scherz von der GPA-djp. Einzig Vorarlberg hat einen Sonderstatus. Beinahe der ganze private Gesundheits- und Sozialbereich ist abgedeckt. Gerade in Obdachloseneinrichtungen mit Tageszentren und Notschlafstellen gebe es meist fixe Arbeitszeiten sowie viele Vollzeitstellen. Zu den Errungenschaften zählt Scherz die Arbeitszeitverkürzung auf eine 38-Stunden-Woche, die volle Anrechnung von Karenzzeiten sowie die jährlichen Lohn- und Gehaltserhöhungen über der Inflationsgrenze. Dennoch gebe es noch viel zu tun: „Es braucht ausreichend Mittel für Randgruppen“, so Scherzer. Zudem sei eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden sinnvoll. „Wir haben einen sehr hohen Teilzeitanteil, der Kollektivvertrag sollte ein Abbild der Realität sein“, so Scherz.

 

Von der „Gruft“ im 6. Wiener Gemeindebezirk in die Innenstadt: Die ambulante Suchthilfeeinrichtung „Verein Dialog“ bietet psychosoziale und medizinische Betreuung für Menschen, die ein Suchtproblem haben, sowie deren Angehörige. Die Herausforderungen liegen für Martin Weber, stellvertretender Geschäftsführer des Vereins, klar auf der Hand: „Wir arbeiten mit einer stigmatisierten und diskriminierten KlientInnengruppe, die manchmal nicht einfach ist und heftige Geschichten erlebt hat.“ Trotz seiner Führungstätigkeit berät er weiterhin KlientInnen. „Es ist wichtig, dass wir weiterhin praxisnah arbeiten, um nicht den Blick für das Wesentliche zu verlieren.“ Wie in der Obdachlosenhilfe stehen regelmäßig Supervision, Selbstreflexion und wöchentliche Teamsitzungen am Programm. 1999 wechselte der Arbeitsmarkttrainer in den Sozialbereich. Seit Martin Webers Einstieg hat sich viel verändert: Die Zahl der HeroinkonsumentInnen sinkt, dafür steigt die Zahl derjenigen, die regelmäßig Cannabis oder chemische Substanzen konsumieren. Eine vollständige Abstinenz ist nicht immer das erklärte Ziel: „Wichtig ist es, die Lebensqualität der KlientInnen zu verbessern. Es gilt, von den jeweiligen Ressourcen auszugehen“, so Martin Weber.
Vormittags und nachmittags sind jeweils zwei MitarbeiterInnen als Suchthilfe am Praterstern unterwegs. Sie sprechen mit obdachlosen Menschen oder Drogensüchtigen und verweisen auf Hilfsangebote oder Notschlafstellen. „Einige Menschen sind nicht mehr in der Lage, zu Ämtern zu gehen. Wir begleiten sie“, erklärt Hannes Schindler, Bereichsleiter von Mobile Soziale Arbeit. Es sei oft schwierig, zwischen verängstigten BürgerInnen und marginalisierten Menschen zu vermitteln. Marginalisiert sind Menschen am gesellschaftlichen Rand. „Man braucht ein hohes Maß an Empathie, an professioneller Ausbildung im psychosozialen Bereich.“ Viele MitarbeiterInnen haben Zusatzausbildungen im Konfliktmanagement.

 

Zielscheibe bei Konflikten
Zurück in der VinziRast-Notschlafstelle in Wien Meidling. Auch die MitarbeiterInnen hier sind geschult auf Konfliktmanagement. Denn nicht jeder versteht, dass der Platz begrenzt ist. Manchmal werden die HelferInnen auch verbal attackiert. „Ich habe am Anfang gedacht, es liegt an mir“, sagt Margriet Reijntjes. Sie hat 40 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet und ist seit vier Jahren bei der VinziRast. Nachtdienste ist sie gewohnt, schwieriger war es zu akzeptieren, dass Beschimpfungen nicht gegen sie persönlich gerichtet, sondern Ausdruck der Verzweiflung sind. „Wir sind die Zielscheibe in dem Moment.“ Ein regelmäßiger Ausgleich ist ihr wichtig: „Ich gehe dann stundenlang in die Natur.“ Dankbarkeit dürfe von den Betreuten keine erwartet werden. Es sei aber trotzdem schön, wenn es passiert. „Erst letzte Woche hat sich jemand per Handschlag bei mir bedankt“, erzählt sie.

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