Städtereisen Stadtrundgang Spandau
Berlins geheimes Idyll liegt ganz im WestenHier sagt man „Spandau bei Berlin" und legt Wert darauf, dass der Bezirk älter ist als die Hauptstadt selbst. Für diejenigen, die in Berlin mal keine Touristen sehen wollen, lohnt sich ein Ausflug.
Autsch! Schon wieder ist einem jemand auf den Fuß getreten. Dicht folgt der Ellenbogen, den man vom Nachbarn in die Rippen bekommt - und das alles nur, weil alle das perfekte Foto von der Aussichtsplattform vom Berliner Fernsehturm haben möchten.
Vor dem Brandenburger Tor geht das Spiel dann weiter: Es wird zur echten Aufgabe, ein Gruppenbild zu machen, auf dem nicht noch andere Leute und zig Selfiesticks zu sehen sind. Der Grund für all das? Touristen. Touristen, so weit das Auge reicht. Vor allem die angesagten Bezirke im Zentrum der Stadt sind beliebt und locken jährlich Millionen von Besuchern aus allen Ländern nach Berlin.
Die Politik freut sich zwar über die vielen Urlauber, die schließlich Geld in die Stadt bringen, gleichzeitig sucht sie nach Lösungen, um den Overtourismus in den Griff zu bekommen. Neueste Idee: Auf in die Randbezirke! Spandau steht dabei ganz oben auf der Liste. Berlins westlichster Bezirk mit knapp 240.000 Einwohnern liegt, was den Tourismus betrifft, noch weitgehend im Dornröschenschlaf. Der Senat möchte die Gegend nun wachküssen und hat dafür sogar Berlins erste Bezirkstourismusbeauftragte ernannt.
Ob das mit dem Urlaub in Spandau eine gute Idee ist? Ich habe es - als gebürtige Fränkin, die ein paar Tage in Berlin zu Besuch ist - einfach mal ausprobiert und mich zwei Tage als Touristin durch den Bezirk treiben lassen. Da, wo es weniger szenig und angesagt zugeht, aber die Eigenheiten der „echten" Berliner vielleicht lebendiger sind. Eine Reise in fünf Kapiteln.
Das Gotische Haus - Zeitreise in der FußgängerzoneMein erster Stopp führt mich zu dem ältesten Bürgerhaus Berlins. Errichtet im 15. Jahrhundert, ist es eines der bedeutendsten mittelalterlichen Baudenkmäler im gesamten Berliner Raum. Ganz schön besonders für das so unbekannte Spandau.
Mit dem Gotischen Haus direkt in der Fußgängerzone in der Altstadt hat Spandau einen echten Schatz zu bieten. So etwas Originales findet man im Berliner Zentrum, das im Zweiten Weltkrieg ziemlich flächendeckend zerbombt wurde, nicht. Schon als ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setze und das Holz unter mir knarrt, bin ich vom Flair des Hauses begeistert.
Trotz der Sanierung in den 80er-Jahren hat das Gebäude seinen Charme behalten. Genau dieses historisch-moderne Ambiente, der Mix aus altem Stein und modernem Glas, hat es mir sofort angetan. Ich bin einigermaßen überrascht, dass es offensichtlich nicht nur in meiner Heimat Franken schöne alte Häuser gibt, sondern auch in der eigentlich so modernen Hauptstadt. In der Ausstellung „Bauen und Wohnen in Spandau" bekomme ich obendrein viele antike Alltagsmöbel zu Gesicht, die bestens zu den gut erhaltenen originalen Mauern passen.
Kolk-Viertel - Spandaus romantische SeiteRaus aus dem Gotischen Haus, hinein in die Altstadt. Ohne Plan lasse ich mich einfach treiben. Das Kolk-Viertel, ein Teil der Altstadt, überrascht mit schmalen Gassen, einem Stück Stadtmauer, einem mittelalterlichen Brunnen - hier zeigt Spandau seine romantische Seite.
In den vielen liebevoll gestalteten Cafés, Gaststätten und kleinen Läden lässt sich prima die Zeit vertrödeln. Zum Beispiel bei „Natur Eis". In einer Art Garage verkauft Marta Bryjak selbst gemachtes Eis und verzichtet dabei auf jegliche Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker. Mein Favorit: das Softeis in der Geschmacksrichtung Schwarze Johannisbeere.
Mit meinem Eis setze ich mich auf eine Bank und beobachte das Geschehen um mich herum. Von Touristen keine Spur, Spandau scheint noch immer ein Geheimtipp zu sein. Die Leute, die an mir vorbeilaufen, sind Einheimische, das verrät mir ihre typische Berliner Schnauze. Hier in Spandau kennt man sich, das Flair ist familiär.
Ich lasse den Blick über die gut erhaltenen Fachwerkhäuser schweifen, sie versprühen ihren ganz eigenen Charme. Ich muss mir kurz wieder ins Gedächtnis rufen, dass ich mich ja immer noch in der Hauptstadt befinde, denn das Kolk-Viertel erinnert mich deutlich mehr an meinen ländlichen Heimatort als an einen Berliner Stadtbezirk.
An der Havel - Monumente der NeuzeitBei einem Spandau-Besuch kommt man an einem Gebäude nicht vorbei: dem Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Rathaus. Groß, rot und klotzig überragt es ganz Spandau. Heute befindet sich im Rathaus das Bezirksamt Spandau, der Turm lässt sich im Rahmen einer Führung besichtigen. Das riesige Gebäude wirkt beeindruckend - wofür ein relativ kleiner Bezirk wohl so ein großes Rathaus benötigt? Später erfahre ich es: Mit dem Bau wollte Spandau seine Unabhängigkeit von Berlin demonstrieren. Erfolgreich war die Stadt damit allerdings nicht, denn 1920 wurde sie dann doch nach Berlin eingemeindet.
Direkt hinter dem Rathaus versteckt sich der Stabholzgarten. Früher ein Lagerplatz für das Holz von Salzfässern, ist er heute eine neu angelegte Gartenanlage. Von hier sind es nur ein paar Meter bis zur Havel. Ich bin überrascht, dass es - wenige Meter von der Fußgängerzone entfernt - so viel Wasser gibt. Nach ein paar Schritten komme ich an die Schleuse Spandau und kann beobachten, wie die Boote und Touristendampfer zwischen Ober- und Unterlauf der Havel wechseln. Die gut gelegenen Badestellen an der Havel wären wie für Urlauber gemacht.
Auch hier lasse ich mich wieder einfach treiben und werde quasi Teil des ganz normalen Alltags unter Berlinern: Da ist der Gärtner, der gemütlich die Rosen pflegt und sich dabei durch nichts aus der Ruhe bringen lässt, da ist die ältere Dame, die mit ihrem Pudel Gassi geht, und da ist das ältere Ehepaar, das mir bei seinem Spaziergang freundlich zunickt. Spandau macht nicht den Eindruck, als ob hier jemals Hektik ausbrechen könnte.
Weiter geht es zum Mahnmal für die zerstörte Spandauer Synagoge und die Opfer der Schoah. Hatte sich eben beinahe ein Urlaubsgefühl eingeschlichen, werde ich jetzt mit der Geschichte der Nazi-Zeit konfrontiert. Dazu braucht es nicht unbedingt das große Holocaust-Mahnmal in Mitte, auch der geborstene Würfel und eine sanft ansteigende Ziegelmauer reichen aus, um an die 1938 in der Reichspogromnacht zerstörte Synagoge und die jüdischen Opfer des Nazi-Terrors zu erinnern - ein beklemmendes Gefühl, aber es ist nun mal Teil der Berliner Geschichte. Auch in Spandau.
Zitadelle Spandau - ein Ort für BurgfräuleinsÜberraschenderweise steht in Spandau eine der bedeutendsten und besterhaltenen Festungen der Hochrenaissance in Europa. Schon beim Betreten der Zugbrücke, über die man zur Zitadelle gelangt, habe ich das Gefühl, in eine andere Welt zu gehen. „Cittadella" kommt aus dem Italienischen und bedeutet so viel wie „kleine Stadt" - und genauso wirkt die Zitadelle. Die hohe Festung von 1600 liegt abgeschieden von der Außenwelt da. Die alten Mauern lassen in mir Burgfräulein-Gefühle aufkommen.
Auch die historischen Ausstellungen (alle auch englisch beschildert) katapultieren mich einige Jahrzehnte in die Vergangenheit. Bei der Schau „Nachbarn hinter Stacheldraht" in der Alten Kaserne bleibe ich lange hängen. Zum 100-jährigen Jubiläum des Endes des Ersten Weltkriegs widmet sich das Stadtgeschichtliche Museum Spandau dem Thema Kriegsgefangenschaft.
Wirklich gut gemacht ist die Darstellung des Ruhleben-Camps, eines der Internierungslager der NS-Zeit. Ich laufe weiter Richtung Juliusturm und komme an der Ausstellung zur Spandauer Stadtgeschichte vorbei. Auch hier: gähnende Leere. Mir fällt kein Museum im Zentrum ein, bei dem das ähnlich war. Eigentlich schade, denn die Ausstellungen hätten mehr Besucher verdient.
Juliusturm - die Aussicht genießenBerlin-Mitte hat den Fernsehturm, Spandau den Juliusturm - und kann damit durchaus mit dem großen Bruder mithalten. Praktischerweise ist der 30 Meter hohe Turm Teil der Zitadelle und so kann man nach 150 Stufen auf der Wendeltreppe die Sicht auf Spandau genießen.
Die Altstadt, die Havel - es ist herrlich! Und vor allem ruhig. Das Beste? Anders als beim Fernsehturm muss ich mir keinen Platz erkämpfen, um schnell mal runterschauen zu dürfen. In der Ferne kann ich sogar Grunewald und Wannsee entdecken.
Lohnt sich Spandau?„Wir können nicht erwarten, dass jemand bei seiner ersten Berlin-Reise nach Spandau kommt", sagt Patrick Sellerie, Leiter der Spandauer Wirtschaftsförderung. Klassische Berlin-Touristen, die das erste Mal in der Stadt sind, die Topsehenswürdigkeiten anschauen und das „Berlin-Feeling" spüren wollen, sind in Spandau an der falschen Adresse. Wer aber die Stadt schon kennt und mal etwas anderes sehen möchte, sollte den Abstecher nach Spandau wagen.
Nach einer halben Stunde Fahrt ist man so gut wie in einer anderen Welt und fühlt sich ein bisschen wie auf dem Land. Spandau ist perfekt für diejenigen, die dem Großstadttrubel - und den anderen Touristen - entfliehen wollen und für diejenigen, die keinen Wert auf die internationale, aber austauschbare Hipster-Szene, sondern auf Authentizität legen.
Der Bezirk ist angenehm entspannt und weniger hektisch als die üblichen Touristenmeilen - und Spandau überrascht: mehr alte Bausubstanz als in der Stadtmitte, eine echte Altstadt, gut gemachte Museen, viel Wasser mit schön gelegenen Badestellen. Ein fast idyllisches Stück Berlin, das man rund um den Reichstag, auf dem Alexanderplatz und in Kreuzkölln nicht findet. Spandau ist, jedenfalls für Berlin-Wiederholungstäter, eine echte Alternative.
Tipps und Informationen zu SpandauAnreise Vom Berliner Zentrum aus ist Spandau mit der U- oder S-Bahn in 30 Minuten erreichbar. Außerdem verfügt Spandau über einen Fernbahnhof mit ICE-Halt.
Unterkunft „Hotel Lindenufer": charmantes Haus in der Altstadt, DZ/F ab 46 Euro, Apartment ab 56 Euro, Frühstück 8,50 Euro ( www.hotel-lindenufer.berlin). „CentroVital": Vier-Sterne-Wellness-Hotel mit Spa, in unmittelbarer Nähe der Havel, DZ ab 124 Euro ( www.centrovital-berlin.de).