Ich bin in einem Mehrfamilienhaus in Berlin-Wilmersdorf aufgewachsen. Die Dielen der Wohnung knarrten bei jedem Schritt und man wusste ganz genau, wer über und unter einem wohnte: Da war die alte Dame genau gegenüber von uns, die nicht mehr aus der Wohnung herauskonnte. Mit ihr entwickelte sich im Laufe der Jahre ein freundschaftliches Verhältnis. Da war die seltsame Familie im Erdgeschoss, aus deren Wohnung es immer schrecklich stank. Und dann waren da die die Gerhards (*leider, ja leider, musste ich den Namen ändern). Ich war eine Tanzmaus, ging mehrmals die Woche zum Ballett. Meine Schwester war 8 Jahre jünger und hatte vor ein paar Monaten laufen gelernt. Zwei aktive Kinder auf den ächzenden, knarzenden Altbau-Dielenböden. Und ein Besen, der von unten gegen die Decke hämmerte.
Dieses Verhältnis verschlechterte sich über viele Jahre hinweg - bis sowohl die Gerhards, als auch meine Familie sich eine andere Wohnung suchten. An diese Geschichte meiner Kindheit musste ich denken, als ich vor zwei Wochen das erste Mal "Die Letzten" von Madeleine Prahs aufschlug.
Denn auch hier geht es um Mieter eines Wohnhauses - genau genommen um die Mieter in der Hebelstraße 13. Karl Kramer, Elisabeth Buttkies und Jersey sind die letzten drei, die in diesem renovierungsbedürftigen Bau zurückgeblieben sind. Und sie hegen keinerlei Sympathien füreinander. Auf den ersten Seiten klang das für mich alles ziemlich nach Klischee, doch diese Erwartung legte sich bald: Durch ihre Eigenarten und Macken werden die drei nach und nach zu Herzensmenschen des Lesers. Elisabeth Buttkies ist schwer krank, Karl Kramer hat seinen Job verloren und wurde von seiner Frau verlassen, und Jersey - ja, Jersey, die hat so ganz eigene Probleme. Doch alle drei kämpfen sich weiterhin durch das Leben. Selbstverständlich entwickelt man so Sympathien für die drei Bewohner. Dass etwas nicht gut läuft im Leben, ob im Großen oder im Kleinen, kennt schließlich jeder von uns.
Das Haus nennt Jersey nur sein "Sorgenkind". Ja, richtig gehört. Denn nicht nur werden die Erlebnisse in der Hebelstraße 13 aus den Perspektiven der drei letzten Bewohnern erzählt. Auch das Haus kommt zu Wort. Anfangs wirken diese Passagen wie Regieanweisung, wie ein unsichtbarer vierter Bewohner, ein gottähnlicher Betrachter, der aber keinen Einfluss auf die Geschehnisse hat. Später erst merkt man, dass das Haus doch so einiges beeinflussen kann.
Zurück zur Story: Kramer, Buttkies und Jersey sollen das Haus nun auch noch verlassen, bevor es renoviert wird. Die erneuerten Wohnungen könnten sie sich nicht leisten. Also sind sie gezwungen, sich zu verbünden und für den Erhalt des Hauses und der Wohnungen zu kämpfen. Auf den knapp 300 Seiten lernt man dabei die Protagonisten auf eine schonungslose und offene Art und Weise kennen, dass man am liebsten alle drei in den Arm nehmen würde.
Madeleine Prahs beweist mit dem Roman nicht nur ihre Fähigkeit, die einzelnen Charaktere auszubauen und persönlich zu schmücken, sondern auch ihren gekonnten Umgang mit Worten. Von Knicken und Markierungen habe ich dieses Buch nicht verschont - ob Wortspiele wie "Im Grunde lag der Grube ihm beim Graben ständig im Weg." oder herzzerreißende Passagen: "Als es draußen langsam Tag wurde, stand Jersey immer noch dort, wo Mutters letzte Worte sie hingetackert hatten, und die Leere spülte durch ihre Organe wie ein Kontrastmittel und machte all die traurige Substanz in ihr sichtbar.". Viele Sätze, Gedanken oder auch Witze wollte ich mir in Erinnerung behalten. Allein ein Blick auf die Kapitelnamen offenbart das große sprachliche Talent der jungen Schriftstellerin: "Eine halbe Kinokarte für Ihre Beteiligung am Weltuntergang" oder "Zack, zack und Marie Antoinette". So wirklich schlau wird man aus diesen Überschriften nicht, erst beim Lesen wird vieles klar.
Das Buch war für mich vor allem eines: Nämlich ein Wahnsinns-Spaß! Leider muss man sich erstmal dazu überwinden, das Buch aufzuschlagen. Das Cover spricht mich persönlich nämlich gar nicht an. Die altbackene Blumentapete in diesem typischen Omi-Grün mit Schnörkelschrift repräsentiert für mich eher weniger den Inhalt. Ein Glück hab ich es trotzdem gelesen! Immer wieder ein großes MERKE: Don't judge a book by it's cover!
Lieblings-Sätze:
Als es draußen langsam Tag wurde, stand Jersey immer noch dort, wo Mutters letzte Worte sie hingetickert hatten, und die Leere spülte durch ihre Organe wie ein Kontrastmittel und machte all die traurige Substanz in ihr sichtbar. (S. 62)
Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Man konnte nur versuchen, sie für ein paar Momente, für die Dauer eines flüchtigen Kusses vielleicht, für ein Lächeln oder eine brennende Wunderkerze, zu überlisten, sich etwas Zeit zu stehlen von der Zeit. (S.101)
"So ein Krebs ist ja ein Gefängnis, machen wir uns nichts vor." (...) "... die Hölle auf Erden, man verrottet innerlich und sieht dennoch jeden Tag das Licht, und obwohl man weiß, dass man bei dem Versuch, dem Kerker zu entkommen, sterben wird, klettert man die Wände hoch." (S. 202f.)
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