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Wenn das BAföG nicht kommt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) soll jungen Menschen helfen, ohne Geldsorgen zu studieren. Doch wenn das Geld nicht kommt, kann die Hilfe schnell zu Stress und Existenzsorgen führen. Marie und Tobias haben das erlebt.

Als Marie den Brief vom BAföG-Amt öffnet, glaubt sie es kaum. Auf dem Blatt Papier steht, dass sie 0 Euro pro Monat erhält. Also gar kein Geld. „Ich wusste, dass das falsch ist", sagt Marie. Sie hat vorher selbst nachgerechnet. Außerdem hat sie in den ersten vier Semestern ihres Studiums BAföG erhalten. Doch als Marie im August 2015 einen Folgeantrag für ihr letztes Studienjahr stellt, stößt sie auf Widerstand im Dresdner BAföG-Amt. Ein halbes Jahr lang muss sie ohne die finanzielle Unterstützung auskommen.

Marie studiert an der TU Dresden Angewandte Medienforschung im Master. Als sich die Geschichte ereignet, ist sie noch im Bachelor an der TU immatrikuliert. Die 22-Jährige heißt eigentlich anders. Sie möchte nicht, dass ihr Name bekannt wird, weil sie Angst hat, noch mehr Probleme mit dem BAföG-Amt zu bekommen. Rechtlich dürfte das nicht passieren. Aber da Marie noch eine Weile auf die Zahlungen angewiesen ist, möchte sie lieber kein Risiko eingehen.

Im August 2015 gibt Marie ihren BAföG-Antrag bei ihrer Sachbearbeiterin persönlich ab. Diese sieht die Unterlagen durch. Dabei fällt ihr auf, dass Maries Vater Berufsunfähigkeitsrente bezieht. Da müsse sie sich erst mal einlesen, sagt die Sachbearbeiterin. Außerdem fehle der Praktikumsvertrag von Maries Schwester. Diese plante ein bezahltes Praktikum in Frankreich. Der Vertrag liegt aber noch nicht vor, weil das Praktikum erst im Oktober beginnt. Marie hat stattdessen eine Praktikumsbescheinigung beigefügt. Alles andere sei vollständig, erklärt die Sachbearbeiterin. Als Marie aus ihrem Büro geht, weiß sie noch nicht, dass sie in den nächsten Monaten öfter im BAföG-Amt sein wird.

In den meisten Fällen haben Studierende keine Probleme mit BAföG-Ämtern. Fällt der Antragsteller in das Raster hinein, klappt es auch mit der Bearbeitung. Sonderfälle scheinen allerdings ein Problem zu sein. Dann kommt es zu sehr langen Wartezeiten.

Komplizierte Berechnung

Marie muss zunächst ein paar Monate warten. Im November findet sie einen Brief vom BAföG-Amt in ihrem Briefkasten: Der Praktikumsvertrag ihrer Schwester und Bescheinigungen zum Einkommen von Maries Vater fehlen. Den Vertrag kann Marie erst jetzt nachreichen. Die Unterlagen zum Einkommen waren ihrer Meinung nach vollständig. Die Sachbearbeiterin wollte jedoch eine weitere Bescheinigung der Krankenkasse. Den vorliegenden Rentenbescheid konnte sie anscheinend nicht bearbeiten.

Also steht sie wieder im Büro der Sachbearbeiterin und legt ihr die Unterlagen vor. Bei einem Blick auf den Praktikumsvertrag sagt diese, dass man das Einkommen von Maries Schwester noch umrechnen müsse. Marie erwidert, dass Frankreich doch auch den Euro habe - seit 2002. „Da dachte ich mir zum ersten Mal: Die Frau weiß nicht so recht, was sie macht", erinnert sich Marie. Im Dezember bekommt sie den BAföG-Bescheid, in dem steht, dass sie kein BAföG bekommt.

Wie man in einem solchen Fall reagiert, weiß Sascha Schramm. Er leitet das Referat Soziales beim Studentenrat (StuRa) der TU Dresden. Als solcher berät er hauptsächlich Studierende, die Probleme mit dem BAföG haben. Wer glaubt, der Bescheid sei falsch, kann Widerspruch einlegen. „Dann wird der Antrag noch einmal in Dresden bearbeitet - meist von der Vorgesetzten der Sachbearbeiterin oder der Leiterin des BAföG-Amts", erklärt Sascha Schramm. Wenn sie keinen Fehler erkennt, geht der Bescheid zum Studentenwerk nach Chemnitz. Die BAföG-Ämter sind jeweils eine Einheit des zuständigen Studentenwerks. In Sachsen gibt es vier davon: Dresden, Chemnitz-Zwickau, Leipzig und Freiberg. In Chemnitz sitzt das Landesamt für Ausbildungsförderung, also das höchste BAföG-Amt in Sachsen. Wird dort auch gegen den Widerspruch entschieden, bleibt in letzter Instanz nur die Klage.

Marie legt Widerspruch gegen den Bescheid ein. Außerdem schreibt sie eine E-Mail an die Vorgesetzte ihrer Sachbearbeiterin und bittet um ein Gespräch. Inzwischen lebt sie drei Monate lang ohne BAföG. Vorher hatte sie 470 Euro im Monat erhalten - eine Summe, die ihr das Leben um einiges erleichtert hat. „Wenn fast 500 Euro wegfallen, überlegt man schon, wie man die Miete zahlen kann", sagt Marie. Sie leiht sich Geld von ihren Eltern und nimmt mehrere Nebenjobs an. „Ich hatte halt weniger Freizeit und habe auf Sparflamme gelebt."

Der StuRa berät auch zur Finanzierung ohne BAföG. Sascha Schramm zählt auf: Eltern, Wohngeld beantragen, Jobben gehen oder ein Studienkredit - diese Möglichkeiten haben Studierende. Den Studienkredit nennt er nur zur Vollständigkeit und erklärt: „Der Studienkredit ist ein verzinstes Darlehen. Er ist nicht bei 10.000 Euro gedeckelt wie das BAföG. Auch die Rückzahlungsmodalitäten sind schlechter. Ich empfehle ihn eher nicht."

Eisige Stimmung beim Beratungsgespräch

Aber wie lange dauert die Bearbeitung eines BAföG-Antrages? Da gebe es keine festen Zeiten, sagt Jana Greiner. Sie ist die Leiterin des Geschäftsbereichs Studienfinanzierung, also die Chefin des Dresdner BAföG-Amts. Wie lange ein Studierender auf sein BAföG warten muss, sei abhängig vom Fall, seiner Mitarbeit und dem Zeitpunkt, an dem der Antrag abgegeben wird. BAföG wird jeweils für ein Jahr bewilligt, dann muss ein neuer Antrag gestellt werden. „Um eine nahtlose Zahlung zwischen den Bewilligungszeiträumen zu gewährleisten, ist es wichtig, dass der Folgeantrag zwei Monate vorher vollständig eingeht", erklärt Jana Greiner.

Marie reichte ihren Antrag im August ein - also fast zwei Monate vor dem Semesterbeginn im Oktober. Zu Maries konkretem Fall kann die Leiterin des BAföG-Amts nichts sagen, weil Marie nicht möchte, dass ihr Name fällt. Jana Greiner betont, dass es nicht der Regelfall sei, dass die Bearbeitung eines Antrags ein halbes Jahr dauert. Wenn etwas schiefgeht, könne sich jeder Studierende bei ihr melden oder bei der Gruppenleiterin der Sachbearbeiterin. „Wir helfen dann und sehen uns den Fall genau an", sagt sie.

Genau das machte Marie. Im Januar steht sie wieder im BAföG-Amt. Dieses Mal hat sie einen Gesprächstermin mit der Vorgesetzten ihrer Sachbearbeiterin. Die Stimmung in dem Büro ist eisig. Daran erinnert sich Marie genau: „Sie wollte mir nicht einmal die Hand geben." Marie schildert der Vorgesetzten ihren Fall und erklärt, dass sie auf BAföG angewiesen ist. Doch dafür hatte die Vorgesetzte wenig Verständnis. „Ich habe den Spruch reingedrückt bekommen: ,Ich gönne den Sachbearbeiterinnen ja keine Weihnachtsferien.'" Marie schüttelt den Kopf. Wenn sie über das Thema redet, wird sie immer noch wütend. Sie hat im August BAföG beantragt - weit vor Weihnachten. Im Gespräch erfährt Marie, dass ihre Sachbearbeiterin in Rente gegangen ist. Die Vorgesetzte rät ihr, einen Aktualisierungsantrag zu stellen. Für Marie bedeutet das: wieder Anträge ausfüllen, wieder Unterlagen sammeln, wieder alles beim BAföG-Amt abgeben. Einige Tage nach dem Gespräch reicht Marie die Dokumente bei der Vorgesetzten ein. Diese bestätigt, dass alles vollständig ist. Im Februar kommt ein neuer Brief vom BAföG-Amt: Unterlagen zu Maries Schwester fehlen. Außerdem übernimmt nun eine dritte Sachbearbeiterin Maries Fall.

„Ich habe mich vom BAföG-Amt unverstanden gefühlt"

„Ich war kurz davor zu klagen", berichtet Marie. Das wäre ihr letzter Ausweg gewesen. Ein halbes Jahr ohne BAföG ist eine Tortur für sie. „Ich habe mich verarscht gefühlt - von vorne bis hinten", formuliert sie deutlich. Kein Geld zu haben bedeutet Druck von allen Seiten. Marie leiht sich 300 Euro im Monat von ihren Eltern. „Es ist kein schönes Gefühl, wieder von den Eltern abhängig zu sein", erklärt die Studentin. Sie muss viel neben dem Studium arbeiten. Dass kein Ende in Aussicht ist, belastet sie besonders. „Ich habe mich vom BAföG-Amt unverstanden gefühlt und ungerecht behandelt." Am meisten frustriert sie das Gespräch mit der Vorgesetzten, die Marie Vorwürfe machte, anstatt mit ihr nach einer Lösung zu suchen. Jana Greiner erklärt, dass sie dazu nichts sagen könne, solange ihr nichts zugetragen wird. Grundsätzlich gehe sie davon aus, dass die Angestellten im BAföG-Amt freundlich auftreten und im Sinne der Studierenden handeln.

Eigentlich soll BAföG ermöglichen, dass auch junge Menschen studieren können, deren Eltern nicht viel Geld verdienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung wirbt damit, dass das BAföG für mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr Bildungschancen stünde. Doch die Bürokratie, die hinter einem Antrag steckt, erschwert die gute Absicht.

Auch Tobias hat einen jahrelangen Kampf um das BAföG hinter sich. Er hat in Dresden Politikwissenschaft studiert und heißt eigentlich auch anders. Bei jedem Antrag, den er ans BAföG-Amt stellt, muss er mehrere Monate auf die Genehmigungen warten. Im ersten Studienjahr bekommt Tobias seine Immatrikulationsbescheinigung erst im September und stellt im gleichen Monat den Antrag. Viele wissen nicht, dass man einen BAföG-Antrag auch ohne Immatrikulationsbescheinigung stellen kann. Das lohnt sich zum Beispiel, wenn man sich für einen NC-freien Studiengang bewirbt oder weiß, dass die Abiturnote besser ist als der Numerus clausus. Sobald man die Bescheinigung dann erhält, sollte man sie nachreichen.

Wenn sich Eltern querstellen

Bei Tobias tut sich ein anderes Problem auf: Er hat keinen Kontakt zu seinem Vater. Dessen Einkommen ist jedoch entscheidend für die Berechnung des BAföG-Satzes. Also schreibt Tobias ihm einen Brief und bittet ihn, seine Einkommensnachweise ans BAföG-Amt zu senden. Im ersten Studienjahr klappt das. Im zweiten reagiert sein Vater nicht auf diese Bitte.

In solchen Fällen kann der Studierende das BAföG-Amt damit beauftragen, die Einkommensnachweise der Eltern einzufordern. Dann können Studierende einen Antrag auf Vorausleistung stellen. Das bedeutet, der Staat zahlt zunächst den Unterhalt, den die Eltern zahlen müssten. „Die Vorausleistungsverfahren sind zeitaufwendig und dauern länger", erklärt Jana Greiner vom Dresdner BAföG-Amt.

Das bekommt auch Tobias zu spüren. In seinem Fall schreibt das BAföG-Amt zwar dem Vater einen Brief. Anspruch auf Vorausleistungen hat er aber nicht. Warum das so ist, weiß er nicht. Ein Blick auf den Bescheid zeigt nur, dass so entschieden wurde. Monatelang wartet er auf eine Meldung vom BAföG-Amt. Während dieser Zeit nimmt er einen 450-Euro-Job an, um sich über Wasser zu halten. Als er in der Sprechstunde seiner Sachbearbeiterin nachfragt, erfährt er nur, dass das Amt seinen Vater anschreibt und es mit dem Antrag dauern kann. Nach vier Monaten kommt der Bescheid.

Im dritten Studienjahr will Tobias alles richtig machen. Er stellt den Folgeantrag schon im Juli. Doch mit Beginn des fünften Semesters müssen Studierende nachweisen, dass sie bisher alle Leistungen erbracht haben, die in der Prüfungsordnung verlangt werden. Das ist bei Tobias nicht der Fall. Den Ablehnungsbescheid bekommt er im Dezember. „Danach hatte ich keine Lust mehr", sagt Tobias. Er formuliert es ähnlich wie Marie: „Ich habe mich verarscht gefühlt! Meiner Auffassung nach hat das BAföG-Amt meine Situation gar nicht berücksichtigt. Es geht dort nur um Geld und Bürokratie."

Amt kann BAföG rückwirkend entziehen

Doch als er sich für einen Masterstudiengang in Chemnitz bewirbt, probiert er es doch noch mal. In den Master Europäische Integration - Schwerpunkt Ostmitteleuropa ist er vorläufig immatrikuliert, weil er gleichzeitig noch an seiner Bachelorarbeit schreibt. Diese hat er zum Ende des Semesters nicht fertiggestellt. Er unterbricht sein Masterstudium. Dann bekommt er Post vom BAföG-Amt in Chemnitz: Er soll eine Kopie seines Bachelorzeugnisses einreichen und ein Formular darüber ausfüllen, ob er sein Studium weiterführt oder aufgibt. Schließlich kommt noch ein Brief aus Chemnitz: Tobias wird das BAföG fürs erste Mastersemester rückwirkend entzogen. Nun soll er 3.426 Euro zurückzahlen. Dagegen legt der 26-Jährige Widerspruch ein - im August vergangenen Jahres. Bis heute ist kein Brief zurückgekommen. Als er im BAföG-Amt anruft, erklärt man ihm, er müsse das Geld zurückzahlen. Es sei bisher niemand dazu gekommen, seinen Widerspruch zu bearbeiten. Der Grund für die Rückzahlung: Tobias hat BAföG nur unter dem Vorbehalt bekommen, dass er sein Bachelorzeugnis innerhalb des ersten Mastersemesters nachreicht. Dieses Kriterium hat er nicht erfüllt.

Inzwischen hat Tobias seinen Bachelorabschluss und belegt seinen Masterstudiengang in Chemnitz. Er hat nach dem jahrelangen Stress mit den Ämtern gar nicht mehr in Betracht gezogen, für das verbleibende Studium BAföG zu beantragen. Er arbeitet nun 20 Stunden pro Woche für eine Abgeordnete im Sächsischen Landtag. Von seinem Gehalt kann er gut leben - auch ohne BAföG.

Tobias und Marie sind Fälle, in denen die BAföG-Ämter unbefriedigend langsam gearbeitet haben. Doch das sei nicht der Regelfall, sagt Sascha Schramm vom StuRa. Damit bestätigt er die Aussage von Jana Greiner, der Leiterin des Dresdner BAföG-Amts. Er erklärt außerdem: „Die Stellen im BAföG-Amt sind an die Antragszahlen gekoppelt." Heißt also: Je mehr Menschen BAföG beantragen, desto mehr Sachbearbeiter werden vom Land Sachsen eingestellt und desto schneller werden Anträge bearbeitet.

Marie bekommt im März 2016 einen neuen BAföG-Bescheid - mit dem richtigen Monatssatz über 470 Euro und einer Nachzahlung. Einen Teil des Geldes zahlt sie gleich ihren Eltern zurück. In dem Bescheid stehen auch zwei Zeilen darüber, dass das BAföG-Amt die lange Bearbeitungszeit bedauere. Übrigens: Ihre Schwester studiert in Leipzig und hat dort BAföG beantragt. Die Unterlagen, die sie einreichte, waren größtenteils die gleichen wie bei Marie. Die Schwester hatte nach drei Wochen einen korrekten BAföG-Bescheid.

Text: Sabrina Winter

Foto: Amac Garbe

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