VON ALICIA JOE UND SABINE WINKLER
Es klingt verlockend: Ein wenig posieren vor der Kamera, ein paar Likes und schon kommen die gut bezahlten Werbekooperationen wie von selbst. Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt versuchen sich als Influencer. Das fängt schon bei den Kleinsten an.
Der folgende Text über das Phänomen der Eltern-Influencer und deren Kinder ist ein Auszug aus dem Sachbuch „Falsche Vorbilder: Wie Influencer uns und unsere Kinder manipulieren" von Alicia Joe mit Sabine Winkler, die regelmäßig auch für WELT schreibt.
Alicia Joe ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen YouTuberinnen und kennt die Social-Media-Welt gut. Auf ihrem Kanal folgen ihr mehr als 511.000 Abonnenten, um ihre Videos über virale Netzphänomene und Influencer zu sehen. Einige ihrer Videos, darunter ein kritischer Beitrag über Kinderinfluencer, erzielten mehr als eine Million Abrufe.
Eigentlich verbietet YouTube verschiedene Arten von Inhalten mit Minderjährigen. So heißt es im Support-Bereich der YouTube-Richtlinien zum Schutz von Kindern: „Die folgenden Inhalte mit Minderjährigen dürfen auf YouTube nicht veröffentlicht werden: Aufnahmen in privater Umgebung in den eigenen vier Wänden wie Schlafzimmer oder Badezimmer. (...) Videos, in denen persönliche Details über Minderjährige preisgegeben werden."
Was zunächst eine sinnvolle Richtlinie zu sein scheint, findet in der Praxis kaum Beachtung: Kinderzimmer-Führungen, Abendroutinen mit Kind inklusive Zähneputzen, Einschlafrituale und sogar Töpfchen-Trainings sind leicht auffindbar. Warum greift YouTube bei solch intimen Bildern trotz der eigenen Richtlinien nicht ein?
YouTube behält rund 45 Prozent der Werbeeinnahmen durch die Videos für sich. Bei einem Video mit einer Million Klicks können das zwischen 2000 und 11.000 Euro sein, je nachdem, welche Werbung geschaltet wird. Da die Blogger selbst rund 55 Prozent der Werbeeinnahmen erhalten, sprechen wir in unserem Rechenbeispiel von etwa 2500 bis 14.000 Euro pro einer Million Klicks auf das jeweilige Video. Ein Familien-Blog sichert so gut und gern den Lebensunterhalt einer ganzen Familie - und lässt durchaus Luxus zu.
So enthalten neun der zehn erfolgreichsten Videos des Kanals mamiseelen Kinder als Protagonisten auf dem Vorschaubild oder im Titel. All diese Videos haben Stand Juli 2022 zwischen 2,9 und 47 Millionen Aufrufe generiert. Auch der Kanal Jindaouis hat erkannt, wie gut das eigene Baby und die siebenjährige Mila auf dem Vorschaubild performen. Auf ihrem Kanal enthalten die vergangenen neun von zehn Videos zumindest eins der beiden Kinder prominent auf dem Vorschaubild ( Stand: 29.05.2022).
Auch hier erreichen die Videos zwischen 825.000 und 1,3 Millionen Aufrufe. Der Verdienst, den diese Familie in den vergangenen zwei Monaten allein durch YouTube - nicht durch Werbeeinnahmen auf anderen Plattformen - damit erreicht haben dürfte, übersteigt den durchschnittlichen deutschen Bruttojahreslohn von rund 42.900 Euro bei Weitem. Auch in diesem Fall werden die Kinder der Influencer gewissermaßen Marionetten ihrer Eltern durch den Erfolg der monetarisierten YouTube-Videos, gegen die sie sich nur schwer wehren können.
Natürlich ist das Performen vor einer Kamera in den eigenen vier Wänden nicht das Gleiche, wie Kleidung in Bangladesch zusammennähen zu müssen. Dennoch sind auch Drehs von Home-Videos für YouTube eine Art Arbeit. Für Film- und Fernsehaufnahmen ist dies schon lange im Jugendarbeitsschutzgesetz geregelt.
Grundsätzlich ist die Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren in Deutschland verboten. Ausnahmen können vorliegen, wenn die Kinder über 13 Jahre alt sind, eine Einwilligung des Sorgeberechtigten vorliegt, die Beschäftigung leicht ist und die Sicherheit, Gesundheit und Entwicklung der Kinder nicht negativ beeinflusst werden. Dennoch dürfen Kinder nicht mehr als zwei Stunden täglich, nicht zwischen 18 und acht Uhr, nicht vor dem Schulunterricht und nicht während des Schulunterrichts beschäftigt werden.
Kinder unter 13 Jahren, wie sie es oft in Familien-Blogs sind, dürfen eigentlich nicht arbeiten. Auf Antrag kann eine Aufsichtsbehörde bewilligen, dass bei Film- und Fotoaufnahmen Kinder über drei bis sechs Jahre bis zu zwei Stunden täglich und Kinder über sechs Jahre bis zu drei Stunden täglich gestaltend mitwirken dürfen.
So erzählt Bloggerin mamiseelen in ihrer „Morgenroutine mit 3 Kindern für die Schule" fröhlich davon, dass es kurz vor sieben Uhr sei. Ein paar Szenen später wird die damals vierjährige Elisa beim Sockenanziehen im Kinderzimmer gefilmt. Wenige Einstellungen später ist die Kamera statisch auf den Frühsẗückstisch gerichtet. Das ganze Frühstück wird mitgefilmt. Anschließend wird der achtjährigen Clara ein Zopf gemacht und es geht zur Schule. Fast eine Million Menschen schauen dabei zu.
Ob das Performen für Home-Videos - die immerhin von Millionen Menschen im Netz gesehen werden - mit Filmaufnahmen für TV-Produktionen vergleichbar ist, ist unklar. Man könnte sogar von einer Grauzone und Lücke im Jugendarbeitsschutzgesetz sprechen. Dabei bergen Home-Videos im Gegensatz zu TV-Produktionen noch eine weitere enorme Gefahr für das Kindeswohl.
Schließlich kommt es beim Arbeiten für den familieneigen YouTube-Kanal in fast allen Fällen zu einem Interessenkonflikt, da die Eltern gleichzeitig Arbeitgeber und Sorgeberechtigte sind. In diesem Zusammenhang weist der Report der gemeinnützigen Organisation Jugendschutz.net auch darauf hin, dass es gut vorstellbar sei, dass die Drehsituation auf viele junge Kinder einschüchternd wirken und unbewussten Druck ausüben könne: Schließlich würden die meisten Kinder mitbekommen, dass ihre Eltern es gut fänden, wenn sie bei den Videos mitmachten, statt sich etwa mit Freunden zu treffen oder zu spielen.
Kurz: Die Kinder opfern ihre eigene, freie Persönlichkeitsentfaltung auf, um ihren Eltern einen Gefallen zu tun. Es mag möglich sein, dass manche Influencer-Eltern diese schleichende Entwicklung bei ihren Kindern nicht gleich bemerken und in erster Linie denken: „Mein Kind hat Spaß an solchen Videos!" Um allerdings sicherzugehen, dass die Bedürfnisse der eigenen Sprösslinge nicht zu kurz kommen, sollten in sozialen Netzwerken aktive Eltern vielleicht eher dafür sorgen, dass das Produzieren und Drehen der Videos mit dem eigenen Nachwuchs so wenig Zeit wie möglich am Tag in Anspruch nimmt.
So ließ Musiker Angelo Kelly seinen damals vierjährigen Sohn William 2019 für etwa eine halbe Stunde nach 17 Uhr auf der Bühne auftreten. Vom Amtsgericht Haßfurt wurde er dafür im Februar 2021 schuldig gesprochen und musste 3000 Euro Bußgeld bezahlen.
Die Gewerbeaufsicht der Regierung von Unterfranken hatte den Verstoß des Musikers zuvor sogar noch höher geahndet: Kelly sollte ein Bußgeld in Höhe von 5000 Euro zahlen. Gegen diesen Bußgeldbescheid hatte Kelly Einspruch erhoben, sodass nun ein Amtsrichter über die Strafwürdigkeit des Auftritts zu urteilen hatte. Der Amtsrichter hatte betont, so einem Bericht der „ Süddeutschen Zeitung " zu entnehmen, dass der Vierjährige keinen psychologischen Schaden durch den Auftritt erlitten habe und deswegen das Bußgeld auf 3000 Euro zu reduzieren sei.
Trotzdem blieb der kurze Auftritt per juristischer Definition Kinderarbeit. Eine Argumentation, die wohl im Ernstfall auch bei vielen Familien-Bloggern greifen könnte.
Dass es sich bei Familien-Vlogs nicht nur um zufällig eingefangene Alltagsaufnahmen, sondern um kalkulierte Inszenierungen handelt, bewies im September 2021 die amerikanische Mamibloggerin Jordan Cheyenne. Als ihr Hundewelpe mit einer Krankheit diagnostiziert wird, filmt sie sich und ihren achtjährigen Sohn weinend im Auto. Bis dahin eine authentische Szene.
Der Sohn ist wirklich in tiefer Trauer. Allerdings vergisst Jordan Cheyenne, das Ende dieser Filmaufnahme im Schnittprogramm herauszuschneiden. Hier posiert sie - noch im Auto - für das Vorschaubild, welches dann später auf YouTube für den Vlog genutzt werden soll. Dabei gibt sie ihrem noch immer wirklich in Trauer weinenden Kind Anweisungen, wie es in die Kamera zu schauen hat.
„Mach eine Hand hoch", „Lass sie deinen Mund sehen", „Tu so, als ob du weinst", sind nur einige der Bemerkungen. Das Kind entgegnet: „Mama, ich weine doch gerade wirklich." Kurz nach Upload wurde das Video wieder gelöscht.
Derartige Aufnahmen und Beweise für eine Inszenierung des Familienlebens sind von deutschen Familien-Bloggern bislang noch nicht bekannt. Es ist aber zumindest vorstellbar, dass die ein oder andere Szene aus dem Familienalltag auch bei deutschen Bloggern mehrmals aufgenommen wird oder unter Regieanweisungen entsteht.
„Falsche Vorbilder: Wie Influencer uns und unsere Kinder manipulieren" ist im Oktober 2022 im YES-Verlag erschienen, 300 Seiten, Hardcover, 19,99 Euro. Zum Original