Sabine Oberpriller

Journalistin, Autorin, Übersetzerin, Frankfurt am Main

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„Wir ersticken im Krempel": Wie man richtig entrümpelt - und was das bringt

Es begann mit Marie Kondo. Seit etwa zehn Jahren zeigt die Japanerin freundlich lächelnd online in Hochglanzvideos, wie man nach der KonMari-Methode faltet, stapelt und vor allem rigoros entrümpelt. Damit hat Marie Kondo in der ganzen Welt einen Trend losgetreten: Decluttering. Auf Deutsch heißt das so viel wie Ausmisten oder Entmüllen.

Im Prinzip geht es darum, Besitz auf das Wesentliche zu beschränken und Wohnraum zu schaffen. Die Motivation dabei ist mal mehr auf den Aspekt der Nachhaltigkeit oder des Konsums gelagert, oder aber darauf, wieder Ordnung ins eigene Leben zu bekommen, sich zu befreien, zu erleichtern.


Das Decluttering passt dabei allzu gut zu einem anderen derzeit beliebten Lifestyle: dem Minimalismus. In den Buchhandlungen stapeln sich Ratgeber über Decluttering. Fernsehshows, Blogs und Onlinechallenges zum Thema boomen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ergründen die Methode. Vom Influencer im Teenageralter bis zum Aufräumprofi im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Deutschland mistet aus. Ein sinnvoller Trend zur Nachhaltigkeit oder schlicht Aufräumwahn?


Decluttering: Warum ist es jetzt im Trend?

Nicht umsonst haben Minimalismus und Decluttering vor allem in der Pandemie in Deutschland Anhänger und Anhängerinnen gewonnen. Sie hat gezeigt, welche Folgen es hat, wenn für immer mehr Dinge immer weniger Platz zur Verfügung ist. Menschen, die vorher das Chaos zu Hause ignorieren konnten, waren im Homeoffice zusammengepfercht. Familien mussten auf engem Raum zusammenrücken.


Laut der Konsumforscherin und Soziologin Viola Muster vom Forschungsprojekt „Mein Ding" hat Marie Kondo einen Zeitgeist getroffen. Und zwar den einer Konsumgesellschaft, die einen Höhepunkt erreicht hat. „Wir ersticken im Krempel. Aber die wenigsten Dinge haben für uns eine Bedeutung", sagt Muster. Bei dem Bürgerforschungsprojekt dokumentieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Erfahrungen mit Decluttering. Für die Forscher überraschend haben sich besonders Ältere, deren Eltern bereits gestorben sind und ihnen ganze Haushalte vererbt haben, für das Ausmisten interessiert. „Es sind Leute mit größtenteils starkem Leidensdruck", sagt Muster.


Eine weitere Beobachtung stellt Aufräumexpertin und Buchautorin Gunda Borgeest fest: „Der Aufräumtrend steht aus meiner Sicht im Zusammenhang mit einer immer unübersichtlicher werdenden Welt, mit Angst, Unsicherheit und Überforderung angesichts von Kriegen und Krisen", sagt sie. „Das Bedürfnis, sich dann wenigstens im eigenen Zuhause sicher zu fühlen und die Dinge ‚im Griff' zu haben, verstärkt sich dadurch."


Decluttering-Strategien: Welche ist die richtige?

Strategien fürs Decluttering gibt es viele: Da ist Marie Kondo, die erstmal alles auf einen Haufen wirft, gemäß der Frage „Versprüht das Ding noch Freude" aussortiert und den aussortierten Gegenständen dankt. Andere Methoden erstrecken sich über einen Monat und steigern pro Tag die Anzahl der aussortierten Dinge von eins bis dreißig. Es gibt Sieben-Tage-Challenges, Um-die-Wette-Ausmisten mit Freunden und Freundinnen, das rigorose Reduzieren des eigenen Besitzes auf 1000 Dinge oder das sogenannte Death Cleaning, bei dem unter der Vorstellung eines nahen Todes die Habseligkeiten auf die, gerade auch für die Nachkommen, maßgeblichen reduziert werden. Bringt das alles was?


Gunda Borgeest, die schon seit langem Aufräumexpertin ist, rät davon ab, Aufräumratgeber sklavisch umzusetzen. Zu ihren Kunden und Kundinnen zählen auch solche, die von der KonMari-Methode frustriert sind, sich unwohl und fremd fühlen mit der neuen Ordnung. „Jeder hat das Bedürfnis nach Ordnung", sagt sie. Aber Ordnung sei etwas sehr Individuelles und sollte aus den Bedürfnissen des jeweiligen Menschen entwickelt und nicht schematisch „verordnet" werden. Borgeest rät daher vielmehr, möglichst genau erspüren, mit welchen Tipps man in Resonanz geht und welche Vorschläge tatsächlich zum eigenen Leben passen. Ihre Ratschläge:


Von Raum zu Raum gehen und aufschreiben, was stört und was man verändern möchte: zum Beispiel dass Küchenutensilien nicht griffbereit sind oder Papier sich stapelt. Überlegen, was dafür eine praktische Lösung ist. Die nötige Zeit für die Umsetzung all dieser Wünsche kalkulieren, meist 80 bis 200 Stunden, und monatlich regelmäßige Termine zum Aussortieren und Neugestalten eintragen: „Richten Sie sich darauf ein, dass es ein längerer Prozess wird. Aufräumen ist wie Bergsteigen oder Konditionstraining, von Etappe zu Etappe wird es leichter." Nicht nach Schränken, sondern nach Kategorien sortieren: Bürosachen, Putzmittel, Kosmetik. Das bedeutet laut der Expertin zwar zunächst Mehrarbeit, weil man alle Dinge in der Wohnung zusammentragen muss, ist aber für den Überblick und das Gefühl der „Tiefenreinigung" wichtig: Nun wird sichtbar, wie viel man von einer Kategorie besitzt und die Trennung fällt leichter: Wer braucht acht Tesa-Abroller? Aussortiertes zeitnah aus dem Haus bringen, um die Befreiungsenergie zu erleben. Selbstreflexion über den eigenen Konsum: Woher kommen all die Dinge? Warum häufe ich ausgerechnet so viel von etwas bestimmtem an? Was triggert mich bei Impulskäufen?

Borgeest weiß auch um die Blockaden, die sich beim Ausmisten ergeben können. Zum Beispiel sei es wichtig,rechtzeitig und offen mit dem Partner oder der Partnerin darüber zu sprechen, die vielleicht eine andere Vorstellung von Ordnung habe. Außerdem sollte man, wenn etwas dazwischen kommt, sofort einen Ausweichtermin für das Vorhaben suchen.

Und, wer fleißig ausmistet, sollte sich darauf gefasst machen, dass das auch Schmerz auslösen kann. Das kann zum Beispiel bei Erbstücken der Fall sein. Dann gelte es, sich nicht zu zwingen, sondern die Entscheidung zu vertragen und sich erstmal mit Dingen zu beschäftigen, von denen man sich leichter trennen könne. Helfen kann dann zum Beispiel auch eine Notfallbox für vertagte Entscheidungen, die nicht zu groß werden darf. Oft fallen Entscheidungen schon eine Woche später viel leichter.


Nachhaltigkeit und Wohlbefinden: Was bringt Decluttering?

Zum Decluttering gibt es mittlerweile erste wissenschaftliche Beobachtungen. Einige Studien geben dem Aufräumtrend recht, was das persönliche Wohlbefinden betrifft. So gibt es wissenschaftliche Belege dafür, dass Aufräumen Glückshormone freisetzt und dass eine aufgeräumte Umgebung auf Menschen eine entspannende Wirkung hat, sie zum Beispiel freigiebiger und hilfsbereiter macht.


Auch das Team um Konsumforscherin Viola Muster konnte bereits erste Erkenntnisse gewinnen: „Decluttering kann eine Grundlage für bewussteres Konsumverhalten bedeuten", sagt sie. Einige Teilnehmenden an ihrem Forschungsprojekt hätten zudem zurückgemeldet, dass sie nun die verbliebenen Besitztümer besser wertschätzen könnten. „Es gibt mittlerweile auch viele wissenschaftliche Belege dafür, dass Wohlbefinden durch reduzierten Konsum, durch Minimalismus gesteigert wird", sagt sie.


Doch nachhaltig ist Decluttering per se nicht, zum Beispiel, wenn alles Aussortierte einfach weggeworfen wird oder wenn Coaches die Formel verwenden, nach der nur etwas Neues gekauft werden darf, wenn Altes dafür wegkommt. Das könne schnell zu einer mehr oder weniger bewussten neuen Konsumspirale führen, sagt Muster. Sie wie auch Profiaufräumerin Gunda Borgeest plädieren dafür, Aussortiertes zu verkaufen oder zu verschenken, auch wenn das nicht so schnell geht.


Wirklich nachhaltig wäre das Ausräumen zudem auch dann nur, wenn danach weniger konsumiert würde. Doch Reize durch Werbung und Preismarketing blieben weiter bestehen, sagt Muster. „Die wenigsten leben Minimalismus und Konsumbewusstsein auf dem Level, dass sie Socken flicken, Dinge reparieren oder einem anderen Nutzen zuführen", sagt Muster.


Nur wer ausmistet, hält deswegen auch nicht gleich mehr und dauerhaft Ordnung. Laut Borgeest lebt es sich mit weniger Dingen zwar leichter. Doch die eigentliche Aufgabe bestehe darin herauszufinden, wie viel man selbst benötige, um sich wohlzufühlen. „Manche brauchen das kreative Chaos", betont Borgeest. Und dass das in gewisser Umgebung sogar nutzt, auch das belegen Studien: Unordnung regt die Kreativität an.


erschienen am 17.01.2023 auf rnd.de

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