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Interview

"Es mussten erst mal Frauen sterben"

Herzinfarkt kriegen nur Männer, und Mädchen sind wehleidiger als Jungs? Die Gendermedizinerin Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione erforscht,
wie Geschlechter-Stereotype der Heilung von Krankheiten im Weg stehen

Frau Dr. Oertelt-Prigione, Anfang des Jahres kam eine Studie der Universität Yale heraus. Für die sahen Versuchspersonen ein Video, in dem jemand einem kleinen Kind in den Finger sticht – der einen Hälfte wurde das Kind als Samuel präsentiert, der anderen Hälfte als Samantha ...

SABINE OERTELT-PRIGIONE: ... und die Erwachsenen nahmen Samanthas Schmerzen weniger ernst als Samuels.

Genau. Hat Sie das überrascht?

Nicht wirklich. Es zeigt die Stereotype, die unsere Gesellschaft prägen und damit auch die Medizin. Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen bei unklaren Diagnosen häufiger zum Psychologen oder zur Psychiaterin geschickt werden als Männer. Das hat mit den Rollenbildern und Vorurteilen der Ärzte und Ärztinnen zu tun, aber auch mit der Art, wie Männer und Frauen kommunizieren und ihre Symptome beschreiben. In vielen Bereichen der Medizin gibt es aber auch tatsächlich biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Herzinfarkte äußern sich bei Frauen oft anders als bei Männern und werden deshalb später erkannt.

Auch Asthma wird bei Mädchen oft später diagnostiziert als bei Jungs. Umgekehrt wird bei Männern die Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes später erkannt, weil ihre Haut sich nicht auf dieselbe Art verändert. Ein Grund dafür ist, dass wir Ärztinnen und Ärzte aus dem Medizinstudium gewisse Bilder mitnehmen ­– von Krankheiten und von den Menschen, die sie haben: Eine Autoimmunerkrankung etwa hat in den Lehrbüchern fast immer eine Frau, einen Herzinfarkt ein Mann. Und Osteoporose hat eine Frau nach der Menopause – dabei ist davon auch ungefähr jeder dritte Mann über 70 betroffen. Erst seit wir begonnen haben, spezifisch darauf zu achten, wie Krankheiten beim jeweils anderen Geschlecht aussehen, erkennen wir solche untypisch verlaufenden Erkrankungen überhaupt.

Sie haben lange am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité gearbeitet, dem ersten seiner Art in Deutschland. Es wurde 2003 gegründet. Wieso ist man erst so spät darauf gekommen, dass es medizinisch relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt?

Weil erst mal Frauen sterben mussten. Bis Ende der 1990er Jahre dachte man, junge Frauen können keine Herzinfarkte haben. Dann sah man: Doch, sie haben Herzinfarkte, und sie sterben öfter daran als Männer. Es stellte sich heraus, dass viele Arzneimittel bei Frauen mehr Nebenwirkungen haben, zum Teil tödliche. So kamen amerikanische Kardiologinnen auf die Idee, die Geschlechter im Vergleich zu betrachten. Bis dahin waren Frauen aus klinischen Studien für Medikamente ausgeschlossen.

Warum denn das?

Eine Folge der Contergan-Tragödie. Nachdem man die Effekte von Contergan auf ungeborene Kinder gesehen hatte, wollte man keine Studien mehr an Frauen riskieren, die potenziell schwanger sein könnten. Das führte aber dazu, dass Frauen Arzneimittel bekamen, die nur an Männern getestet waren.

Wie reagieren Ärzte heute auf Ihre Forschung?

Unterschiedlich. Die meisten haben sich nie damit befasst. Bei den Jüngeren sehe ich mehr Offenheit als bei den Etablierten, in Holland mehr als in Deutschland. Aber wir sind schon weiter als vor zehn Jahren. Weil die ersten Gendermedizinerinnen zum großen Teil aus der Kardiologie kamen, ist das Thema bis heute mit ihr verbunden. Jetzt beginnen auch andere Fachgebiete, sich damit zu befassen, die wichtigste europäische Fachgesellschaft für Krebsforschung etwa hat im November einen Workshop dazu veranstaltet. Förderinstitutionen, etwa die EU, verlangen, dass man Geschlechteraspekte bei der Forschung berücksichtigt. Das heißt: Viele müssen sich nun danach richten, auch wenn sie es für Quatsch halten – und finden womöglich etwas. Das ist der beste Weg, diese Fachleute zu überzeugen.

Das Ärzteblatt fragte 2016 an deutschen Medizin-Fakultäten nach, inwieweit das Thema in den Lehrplänen vorkommt. Das Ergebnis: kaum.

Gendermedizin einzuführen ist ein Veränderungsprozess. Es tut sich langsam etwas, nur leider nicht systematisch. Gibt es an einer Fakultät eine Person, die das Thema wichtig findet, dann wird es gelehrt; geht die Person in Pension, ist es wieder weg. Eigentlich müsste das in die nationalen Lehrkataloge einfließen, aber im Föderalismus ist das schwierig.

Solange nicht alle für das Thema sensibilisiert sind – was raten Sie Frauen für den Arzt/Ärztin-Besuch?

Fragen Sie nach: „Brauche ich als Frau bei diesem Medikament eine andere Dosis, gibt es da einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?“ Wenn Ärzte immer wieder danach gefragt werden, müssen sie sich damit auseinandersetzen. Nimmt Ihre Ärztin Ihre Schmerzen nicht ernst, suchen Sie sich jemand anderen. Patientinnen sind oft sehr treu und scheuen davor zurück, eine zweite Meinung einzuholen – aber wenn man dieselben Beschwerden immer wieder hat, sollten sie untersucht werden.

Was kann eine Frau tun, wenn sie in einer Akutsituation als wehleidig abgetan wird?

Da hat man nicht viele Möglichkeiten. Versuchen, sich Gehör zu verschaffen – nicht durch Herumschreien, sondern durch ruhiges Insistieren, auch wenn das in solchen Situationen schwierig ist. Hilfreich ist, eine zweite Person mitzunehmen, die für einen eintreten kann: „Meine Freundin ist normalerweise nicht wehleidig, da stimmt etwas nicht, bitte gucken Sie nochmal.“ Normalerweise steckt nicht böse Absicht dahinter, sondern Überlastung. Die meisten Ärztinnen und Ärzte machen ihren Job ja, um Menschen zu helfen.

Brigitte, 17. Juni 2019