Der Journalist und Autor Ruşen Cakir kam auf Einladung des "Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation" (VIDC) nach Wien, um über das System Erdogan zu sprechen. Er gilt als Koryphäe für den politischen Islam in der Türkei und schrieb zahlreiche Bücher.
derStandard.at: Ein Jahr nach den Gezi Protesten scheint der "Geist von Gezi" verflogen zu sein?
Cakir: Nein, denn auch die politische Karriere Recep Tayyip Erdogans und mit ihm der Aufstieg des politischen Islam kamen nicht über Nacht. Der politische Islam ist ja die stärkste politische Kraft in der modernen Türkei und dennoch brauchte er Jahrzehnte, bis er an die Macht kommen konnte. Daher wäre und war es falsch eine schnelle und unmittelbare Wirkung des Geistes von Gezi zu erwarten. Aber wir konnten den Geist von Gezi etwa im Zuge der Proteste nach dem Grubenunglück von Soma spüren. Noch heute wird Erdogan wütend, wenn man ihn auf Gezi anspricht und das zeigt ja auch die anhaltende Wirkung.
derStandard.at: Nach dem Grubenunglück von Soma hatte Erdogan Probleme die Krise zu "managen", angeblich kam es sogar zu Rangeleien mit Demonstranten, einer seiner Berater trat gar einen am Boden liegenden Mann. Verliert Erdogan die Bindung zum "kleinen Mann"?
Cakir: Gezi, Korruption, ein tretender Erdogan-Berater, das sind alles Dinge, die natürlich ihre Spuren hinterlassen und an der Popularität Erdogans nagen, aber letzten Endes steht man wiederum vor dem Dilemma einer glaubwürdigen Alternative zu Erdogan. Wenn die Opposition allerdings eine solche personelle Alternative böte, dann wären die Proteststimmen aus dem AKP-Lager wohl nicht gering.
Dennoch will ich eines klar sagen, das türkische Volk ist nicht unkritisch und verfolgt sehr wohl Korruptionsenthüllungen, Polizeiübergriffe oder auch Machtmissbrauch, aber das Volk hat eben Angst, weil die Wirtschaft brummt und die AKP ihnen Glauben macht, dies stünde im direkten Zusammenhang mit der Person Erdogan.
derStandard.at: Erst kam Gezi, dann kamen die Korruptionsenthüllungen und der Konflikt mit der Gülen Bewegung und dennoch konnte die AKP die Kommunalwahlen gewinnen. Wähnt sich Erdogan nun unbesiegbar?
Cakir: Bleiben wir bei der Gülen Bewegung: Diese hat nicht nur die Korruptionsenthüllungen lanciert und medial verstärkt, sondern hat auch informell Anhänger und Sympathisanten aufgerufen, nicht mehr für die AKP zu stimmen. Aber wenn nicht mehr der AKP, wem denn dann, war die berechtigte Frage? Und dieses Dilemma einer glaubwürdigen Alternative betrifft ja nicht nur die Gülen-Anhänger, sondern ist symptomatisch.
derStandard.at: Und damit kommen wir zur wahrscheinlichen Kandidatur Erdogans für die Präsidentschaftswahlen im August.
Cakir: Die Entscheidung im August wird ja wahrscheinlich erst in der zweiten Runde fallen, wenn keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent bekommt. Erdogan wird wohl einem CHP-Kandidaten gegenüberstehen und aufgrund der verhärteten Fronten zwischen den Lagern wird die CHP auch mit den Stimmen der rechtsnationalen MHP rechnen können, aber eben nicht mit den Stimmen der kurdisch versierten BDP, die aller Wahrscheinlichkeit nach eher zu Erdogan und der AKP tendieren werden. Und das zeigt ja meine Eingangs erwähnte Alternativarmut auf. Da sich die CHP in puncto Kurdenpolitik nicht ändert, kann man jetzt schon davon ausgehen, dass es keine große Überraschung geben wird.
derStandard.at: Erdogan spricht auch nach gewonnenen Wahlen von "äußeren Kräften", die der Türkei schaden wollen, weil es ihr eben gut ginge - glaubt er selbst an diese Theorie oder steckt Kalkül und Strategie dahinter?
Cakir: Der politische Islam hat ohnehin eine Affinität für derlei Theorien und Erdogan wurde ja im Schoße dieser Bewegung sozialisiert. Andererseits waren die ersten Jahre der Erdogan Regierung ja eine Zeit, die einem klaren Bekenntnis zum Westen folgten. Erdogan spürt natürlich, dass nach Gezi und den Korruptionsenthüllungen sein Image bei westlichen Partnern stark gelitten hat und ich denke auch, dass jene Partner im Zweifelsfall gegen Erdogan stünden, wenn es eine Alternative gebe, die es aber - wie zuvor erwähnt - nicht zu geben scheint.
In puncto Gülen ist sein Glaube an eine machtpolitische Verquickung, meiner Meinung nach, aber am stärksten. Erdogan sieht seinen Kredit bei den Amerikanern aufgebraucht und fürchtet nun durch das US-freundliche Gülen-Netzwerk ausgehebelt zu werden.
derStandard.at: Daher spricht Erdogan auch von einer (politischen) Abrechnung mit der Gülen Bewegung?
Cakir: Die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und dem Gülen-Lager sind etwas abgekühlt. Das mediale Flaggschiff der Gülen-Gruppe die ZAMAN hat zwar ihre regierungskritische Haltung beibehalten, aber es folgen keine Leaks mehr. Ich denke, dass die Gülen-Bewegung die weiteren Schritte Erdogans abwarten will, um ihre letzten Karten zu spielen. Erdogan hingegen will kurz vor den Wahlen gewiss keinen weiteren Unsicherheitsfaktor und daher ist es im Augenblick ein gespanntes Warten, wie dieser Kampf weitergehen wird.
derStandard.at: Gibt es Hoffnung, dass sich die türkischen Oppositionsparteien aufrütteln und den Menschen eine Türkei nach Erdogan und der AKP skizzieren können?
Cakir: Wir sind ja an einem Punkt, wo wir die eigentlichen politischen Akteure und damit auch potenziell oppositionellen Kräfte nicht mehr im Parlament finden. Im Augenblick gibt es drei relevante politische Akteure: Erdogan und seine AKP, Fethullah Gülen und sein weltweites Netzwerk und Abdullah Öcalan und seine Anhänger. Die Oppositionsparteien erscheinen da nur noch in Nebenrollen. Denn über das Schicksal der Türkei entscheiden diese drei Akteure. Wenn etwa im Zuge der Korruptionsenthüllungen die Gülen Bewegung und Öcalan zusammen gefunden hätten, dann hätte Erdogan diese gegnerische Allianz nicht überlebt. Aber Öcalan entschied sich für die Fortführung des Friedensprozesses mit Erdogan, in dem er die Enthüllungen einen "Putschversuch" genannt hatte.
derStandard.at: Der Friedensprozess mit der PKK wandelt auf holprigen Pfaden, doch Erdogan scheint erpicht, den Frieden um jeden Preis bewahren zu wollen.
Cakir: Der Friedensprozess ist ja die Lebensversicherung Erdogans, nicht nur weil er etwas geschafft haben würde, was noch keine türkische Regierung vor ihm geschafft hätte, sondern auch weil er nach dem Wegfall Gülens nur noch einen innenpolitischen Alliierten zu haben scheint und das ist der inhaftierte PKK-Chef Öcalan.
Ich war vor wenigen Wochen in der nordirakischen PKK-Zentrale in Kandil und hab dort mit den Verantwortlichen gesprochen. Man kann sagen, dass sich die PKK und ihre Anhänger ihrer Sache sehr sicher sind, gerade weil sie wissen, dass Erdogan auf sie angewiesen ist und den Friedensprozess nicht leichtfertig gefährden wird. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 28.5.2014)