Weil ständig etwas passiert, gibt es ständig etwas Neues, über das gesprochen werden muss. An Vergangenes wird erst wieder erinnert, wenn sich Ereignisse jähren wie die US-Invasion im Irak von 2003. Allerdings ist bemerkenswert, was dabei meist im Fokus steht: der völkerrechtswidrige Krieg, der auf der Lüge basierte, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen.
Weniger Beachtung findet die Tatsache, dass ein brutaler Diktator gestürzt wurde, der zwei Kriege begonnen und zahlreiche Massaker verübt hatte, darunter die Operation „Anfal" zwischen 1986 und 1989, während der schätzungsweise 150.000 Kurden ermordet wurden und die von Großbritannien, Norwegen und Schweden offiziell als Genozid anerkannt ist. Ein Diktator also, der so viele Verbrechen begangen hat, dass man noch drei, vier weitere Prozesse gegen ihn hätte führen müssen - und selbst die würden nicht reichen.
Umso erstaunlicher ist, wie viele Kommentare und Beiträge zum Irakkrieg heute weder die Operation „Anfal" noch den Giftgasanschlag auf die kurdische Stadt Halabja oder die Massaker an den Schiiten auch nur in einem Nebensatz erwähnen. Vom brutalen Folterapparat des Regimes ganz zu schweigen. Wer mehr dazu erfahren will, dem sei ein Besuch im Amna-Suraka-Museum in der Stadt Sulaymaniyah in der Autonomen Region Kurdistan empfohlen - einem ehemaligen Foltergefängnis, das von DDR-Architekten entworfen wurde.
Der Sturz Saddams war eine BefreiungSchon 2003 klafften die Wahrnehmungen des Militäreinsatzes weit auseinander. Während die einen darin den Gipfel imperialistischer Kriegstreiberei sahen, feierten die anderen den Sturz Saddams als Befreiung. In vielen kurdischen Familien (wie auch der meinen) betrachtete man die Millionen Menschen, die in westlichen Metropolen gegen den Irakkrieg demonstrierten, mit Befremden.
Wo waren diese Menschen 15 Jahre zuvor, als Saddam die Kurden in Halabja mit Giftgas bombardierte? Und wo waren sie elf Jahre später, als der IS die Jesiden ermordete? Ging es ihnen wirklich um die Menschen im Irak? Oder wollten sie nur mal wieder dem guten alten Antiamerikanismus frönen? Und interessierte es sie nicht, dass eben noch deutsche Firmen Saddam mit Produktionsmitteln für Chemiewaffen ausgestattet hatten, die an einem einzigen Tag 5000 Menschen töteten?
Dass die US-Invasion kein Akt selbstloser Güte war, ist klar. Sonst wäre sie schon 15 Jahre früher gekommen, als tatsächlich ein Genozid stattfand, der hätte verhindert werden müssen - und man sich durch Unterlassung schuldig machte. Damals war Saddam, der Krieg gegen den Iran führte, eben noch ein Verbündeter des Westens. Das änderte sich erst, als er 1990 in Kuwait einmarschierte.
Die Geschichte scheint den Friedensbewegten von 2003 recht zu geben. Der Irak gilt vielen heute als gescheiterter Staat: Korruption, Terror, und nichts funktioniert. Doch abgesehen davon, wie zynisch es ist, einem Massenmörder nachzutrauern - das Problem dieser Sichtweise ist, dass sie erst 2003, beim Einmarsch der Amerikaner, ansetzt.
Der Irak ist heute ein gescheiterter StaatAls hätte davor nicht 40 Jahre lang die Baath-Partei (24 davon mit Saddam an der Spitze) das Land zugrunde gerichtet, ein Land, das reich an Bodenschätzen ist; als hätten viele der heutigen Probleme nicht auch ihre Wurzeln in der Diktatur der Baathisten. Oder, anders gefragt: Ist es verwunderlich, dass nach Jahrzehnten der Tyrannei, der Verfolgung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen kein Zusammenhalt herrscht? In einem Land, das erst von der Kolonialmacht Großbritannien erschaffen worden ist?
Vielleicht lässt sich sagen: Der Sturz des Diktators war richtig, was folgte falsch - eine Kaskade der Fehler und, man kann es nicht anders sagen, der Dummheiten. Kaum war Saddam besiegt, begannen schon die Plünderungen. Tagelang und überall wurde geplündert, in Museen, Schulen, Hotels, Universitäten. Und die Briten und Amerikaner schauten zu.
So wenig wie die öffentlichen Gebäude schützten sie die Grenzen. Internationale Dschihadisten konnten unbehelligt einreisen. Dann wurde auch noch die irakische Armee aufgelöst, und Hunderttausende gingen einfach mit ihren Dienstwaffen nach Hause. Hinzu kamen furchtbare Menschenrechtsverletzungen. Die Folterbilder aus Abu Ghraib trugen nicht zur eigenen Glaubwürdigkeit bei.
In Gefängnissen wie Camp Bucca trennte man sauber nach Konfessionen, sperrte hochrangige Baathisten zusammen mit Islamisten ein und schuf so eine Brutstätte für neuen Terror. Und als wäre all das nicht genug, zogen Amerikaner und Briten ihre Truppen ab und hinterließen ein instabiles Land. Der Iran machte es zu seinem Satellitenstaat und kontrolliert es seither mithilfe seiner Proxy-Milizen.
Eine Lösung ist das nicht - von welcher Seite auch immer man es betrachtet. Saddams Sturz liegt 20 Jahre zurück. Doch diejenigen, denen er Gewalt angetan hat, vergessen nicht, auch nicht deren Kinder und Kindeskinder. Der Diktator ist weg, aber nicht die Wunde, die er ihnen zugefügt hat.