Ein Regime, das es nicht mehr gibt, kann keine Atombombe bauen. Es kann auch keine abwerfen. Und es kann nicht, wie es seit 1979 droht, Israel vernichten. Dafür hat man in Teheran sogar eine „Israel-Restzeit-Uhr" aufgestellt. Sie zählt die Tage bis zum Jahr 2040, dann will man das Land spätestens vernichtet haben. Bis dahin werden weiter in einer Fabrik in Khomein Israel-Flaggen produziert, nur um sie öffentlichkeitswirksam zu verbrennen.
Manche mögen das für eine Schrulle halten, diese Nummer mit der Vernichtung Israels, die die Mullahs immer wieder aus dem Hut zaubern. Aber wenn das Regime wie im März auf eine imaginäre Mossad-Basis in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak feuert, fragt man sich schon, ob die Leute noch ganz dicht sind. Es sollte klar sein: Von Verbrechern ist alles zu erwarten.
Das Mullah-Regime zeige sein wahres Gesicht, heißt es nun oft. Aber das stimmt nicht. Das Mullah-Regime zeigt seit Jahrzehnten sein wahres Gesicht. Man wollte es nur nicht sehen, wie man Gewalt nun mal nie gerne sieht. Aber alles war bekannt: die Baukräne, an denen Homosexuelle aufgehängt werden; die Gefängnisse, in denen vergewaltigt wird; die Kinder, die man im Iran-Irak-Krieg als Minenräumer ins Feld schickte mit einem Plastikschlüssel um den Hals (fürs Paradies) und die sich in Decken wickelten, damit ihre Körperteile nach dem Tod noch beisammen waren. Die Einzigen, die nun ihr wahres Gesicht zeigen, sind die Menschen auf den Straßen. Die trotz der Gefahr, verhaftet oder sogar getötet zu werden, nach Freiheit rufen, den Sturz des Regimes fordern.
Ein Regime, das es nicht mehr gibt, kann keine Todesurteile sprechen. Es kann keine Todesurteile vollstrecken. Und seine Gegner nicht mehr im Ausland ermorden, wie 1992 den Sänger Fereydun Farrochzad in Bonn oder die kurdischen Exilpolitiker im Berliner Restaurant Mykonos.
Ärzte, die verletzte Demonstranten behandeln, werden verhaftetMan kann so ein Regime nicht einfach stürzen. Und man ist sich nicht einig, ob es eine Stärke oder Schwäche ist, dass diese Protestbewegung, diese Revolution ohne eine Führungsfigur auskommt, die ja ganz schnell eingesperrt oder umgebracht werden könnte. Und was kommt danach? Ebnet vielleicht gerade der vielstimmige Ruf nach Freiheit den Weg in die Demokratie, in dem das Was, Wie und Wohin ja kontinuierlich ausgehandelt werden muss? Demokratie ist ja bekanntlich ein Work in progress.
Seit Beginn der Proteste sind laut Menschenrechtsorganisationen mehr als 300 Menschen ermordet und mehr als 14 000 verhaftet worden. Verletzte können sich kaum ins Krankenhaus wagen, denn da wartet schon die Polizei. Sie verhaftet auch Ärzte, die Verletzte behandeln. 227 von 290 Abgeordneten des Parlaments haben die Todesstrafe für die Demonstranten gefordert. Die ersten Todesurteile wurden schon gesprochen. So wurde etwa der kurdische Rapper Saman Yasin nach wochenlanger Folter zum Tode verurteilt.
Wieder wird spekuliert: Meinen die das ernst mit der „Todesstrafe für alle"? Oder wird nur gedroht und an einigen wenigen ein Exempel statuiert? Das ist zynisch - es geht um Menschenleben, jeder Getötete ist einer zu viel. Man solidarisiert sich gerne mit den mutigen Iranerinnen. Oft hat man in den vergangenen Jahren die Geschichten der starken Frauen erzählt und gehört, die trotz der Widrigkeiten des frauenfeindlichen Systems irgendwie ihr Leben leben (was bleibt ihnen auch anderes übrig?).
Menschen werden an Baukränen erhängtDas mag alles stimmen. Man beruhigt sich aber auch mit all diesen netten Geschichten. Man schickt einige deutsche Kulturbetriebsleute und Schriftsteller nach Teheran und nennt das Wandel durch Annäherung. Die berichten dann schwärmerisch von der sogenannten anderen Seite des Landes, die es ohne Zweifel gibt. Aber von der Gewalt will man nichts wissen. Nichts von den Gefängnissen, den Baukränen, den Auspeitschungen.
Eine ähnliche Sprache sprechen die mageren Tweets von Olaf Scholz. „Es ist schrecklich, dass #Mahsa Amini im Polizeigewahrsam in Teheran gestorben ist", twitterte er im September, als wäre sie einfach so umgekippt. Und im Oktober: „Es bestürzt mich, dass bei den Protesten im Iran friedlich demonstrierende Menschen ums Leben kommen" - als ob sie der Blitz getroffen hätte und nicht scharfe Munition der Regime-Schergen.
Natürlich wird die Gewalt nicht dadurch gebannt, wenn man sie korrekt benennt. Es geht um etwas anderes. Nämlich um die Frage, wie man sich zu ihr verhält. Ob sie die Kröte ist, die man schluckt, um weiter Geschäfte zu machen. Ob man einfach abwartet, bis die Gewalt - wie immer, wenn das Internet nur oft genug abgeschaltet wird und das öffentliche Interesse abflaut - nur noch in den Appellen von Amnesty und Co vorkommt. Oder ob man die Gewalt zu einem Parameter der eigenen Iran-Politik macht. Dann verliert das Regime jede Legitimität. Ein Regime, das es nicht mehr gibt, kann nicht mehr foltern und morden. Und jeder Tag, an dem dieses Regime weiter foltert und mordet, ist einer zu viel.