Dies ist ein Nachruf. Und der Nachruf ist für dich, Jina. „Jina, Liebste, du stirbst nicht. Dein Name wird ein Symbol werden", steht auf deinem Grabstein.
Ich will dich Jina nennen, Leben. Jina, wie deine Mutter dich nennt, als sie an deinem Grab kniet, weint, sich auf die aufgeschüttete Erde wirft, deinen Namen ruft, während eine Rose von deinem Grab in ihrer Hand zerfleddert.
Dein kurdischer Name, Jina, der dem persischen Mahsa wich, weil die Behörden keine kurdischen Namen duldeten. Und dieser Name Mahsa, der in deiner Geburtsurkunde, deinem Ausweis und deinen offiziellen Papieren, ja selbst in den Berichten der internationalen Medien über deinen Tod und über deinen Tod hinaus geschrieben steht. Was bedeuten Namen? Und welches Leben lebt man, wenn man nicht diejenige sein darf, die man ist?
Das Grauen wird mich lebendig begrabenIn dem Video von deiner Beerdigung auf dem Dorffriedhof von Aichi in Saqqez, das in den sozialen Medien tausendfach geteilt wird, rufen die Menschen „Tod dem Diktator". Sie singen ein Lied, das nach Saddams Giftgasanschlag auf die Kurden in Halabja geschrieben wurde. Sie singen: Lass mich heute Abend nicht allein, das Grauen wird mich lebendig begraben.
Was über deinen Tod bekannt ist: Am 13. September warst du mit deiner Familie in Teheran, Verwandte besuchen. Du warst mit deinem Bruder Kiarash unterwegs, als ihr kurz nach sechs von der Polizei aufgehalten wurdet. Wobei man Polizei noch einmal präzisieren muss, schließlich handelt es sich hier nicht um Verkehrs-, oder Schutzpolizei, sondern die islamische Sittenpolizei. Was anmutet wie eine Erfindung aus einem dystopischen Roman, ist in Iran seit 1979 Realität. Die Polizisten trennten dich mit Gewalt von deinem Bruder. Dein Kopftuch sitze nicht richtig, hieß es. Man nehme dich für eine „Umerziehungsmaßnahme" auf die Wache. Berichten zufolge wurde dein Kopf gegen die Autoscheibe geschlagen. Dein Bruder also machte sich auf den Weg zur Wache, vor der auch andere Angehörige inhaftierter Frauen warteten. Es habe Schreie aus dem Gebäude gegeben. Die Angehörigen hätten an die Tür gehämmert und Polizisten sie mit Schlagstöcken und Tränengas angegriffen. Die Frauen sagten, da drinnen sei jemand getötet worden. Ein Krankenwagen verließ den Hof. Dein Bruder machte sich auf den Weg ins Krankenhaus.
Es heißt, du warst schon bei deiner Ankunft im Krankenhaus hirntot. Es heißt, du fielst ins Koma. CT-Aufnahmen deines Kopfes zeigen: Knochenbrüche, Blutungen, Hirnödem. Die Behörden sprechen von einem Herzinfarkt. Am 16. September wurde dein Tod festgestellt. Du wurdest nur 22 Jahre alt.
Gern würde ich hier mehr über dich erzählen, liebe Jina. Gern würde ich Freundinnen zitieren, Nachbarn, deine Cousine, deinen Bruder, deine Mutter. Ich würde dich hier auferstehen lassen, von deinen Träumen und Zweifeln erzählen, dein Leben feiern, den Menschen, der du warst. Irgendwo lese ich, du seist Betreiberin eines Modegeschäftes für Frauen gewesen. Auf den Fotos, die in den sozialen Medien geteilt werden, siehst du elegant aus. Auf jedem Bild trägst du Lippenstift, (was mir sympathisch ist, auch ich trage gern Lippenstift).
Vielleicht muss man nur dieses eine Video sehen, von deiner Mutter an deinem Grab, um eine Ahnung zu bekommen, welche Kluft deine Ermordung in das Leben deiner Liebsten reißt. Welche Zerstörung Diktaturen, in diesem Fall die Islamische Republik, der Gottesstaat, Terrorstaat, Staat von Mördern und Verbrechern, im Leben Einzelner anrichten.
In Iran treibt dein Tod die Menschen auf die Straße. Liebe Jina, die Frauen schneiden sich die Haare ab, - ein Akt der Trauer, sie verbrennen ihre Kopftücher. Studentinnen in Teheran schreien: Frauen, Leben, Freiheit. Die Menschenrechtsorganisation Hengaw meldet, in den kurdischen Gebieten seien sieben Menschen ermordet, 450 verletzt und außerdem 500 Demonstranten festgenommen worden.
Die Behörden drangsalieren auch deine Familie. Deine Familie weigert sich, dem Staatssender ein gescriptetes Interview zu geben. Die Behörden wollen dich im Morgengrauen begraben, still und heimlich. Deine Familie weigert sich. Dem Mullah, der das Gebet sprechen will, sagt dein Vater: „Wegen eures Islams habt ihr sie getötet. Wegen zwei Haarsträhnen! Und jetzt wollt ihr beten, schämt ihr euch nicht?" Der kurdische Autor Behrouz Boochani schreibt, im Westen würde man sich kaum um die Proteste scheren, der Kampf der Frauen gegen das Kopftuch, das widerspräche den eigenen orientalistischen Vorstellungen. Und bei all dem Gerede über feministische Außenpolitik, wo ist die feministische Außenpolitik, wenn man sie braucht? Mögen den schönen Worten Taten folgen. In den Medien kursieren Fotos von Präsident Raisi mit seiner Verbrecherbande auf dem Weg zur UN-Vollversammlung.
Liebe Jina, möge dir Gerechtigkeit widerfahren. Mögen deine Mörder verurteilt werden. Mögest du ihr letztes Opfer bleiben. (An dieser Stelle sei auf die lesbischen Aktivistinnen Sareh Hamedani und Elham Chubda hingewiesen, die auf ihre Hinrichtung warten). Und vor allem, liebe Jina, mögest du nicht vergessen sein. „Man schoss auf mich, während ich gesegnet wurde/ mein Lächeln wurde zu Tode gesteinigt", heißt es in einem Gedicht der kurdischen Lyrikerin Meral Simsek. „Ich war eine Frau/ Ich war viele/ Ich war nicht".