Man stelle sich vor: Ein Land, das gerade von Sandstürmen heimgesucht wird, die so staubig sind, dass Flugzeuge nicht mehr landen können und Menschen keine Luft bekommen. Ein Land, das laut Transparency im Jahr 2021, was Korruption betrifft, den 157. von insgesamt 189 Plätzen belegt, also ganz oben mitspielt beim Corruption World Cup. Ein Land, in dem die Terrorgruppe Islamischer Staat ein Verbrechen nach dem anderen beging und 2014 einen Genozid seiner êzîdischen Bevölkerung verübte, deren Überlebende bis heute zum Großteil nicht in ihre Dörfer und Städte zurückkehren können. Ein Land, in dem Armut grassiert, die Arbeitslosenquote seit Jahren steigt, große Teile der Bevölkerung traumatisiert sind von brutalster Saddam-Diktatur und Kriegen.
Solch ein Land, würde man meinen, hat ein Haufen schwerwiegender Probleme. Und was tut die Regierung dieses Landes, das ja zumindest auf dem Papier eine Demokratie ist, um seine schwerwiegenden Probleme in den Griff zu kriegen? Sie erlässt erstmal ein Gesetz, nach dem den Bürgern, ja auch denen im Ausland, bei Kontakt zu einem israelischen Staatsbürger die Todesstrafe droht. Selbst für ausländische Besucher gilt dieses Gesetz. Zugegeben, diese Gruselnachricht ist wie viele der Nachrichten aus diesem Land, die ja meist Gruselnachrichten sind, wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Man hat sich also kurz empört und schon ist's vergessen. Doch das Gesetz bleibt.
Die Sehnsucht, den Irak kennenzulernenMan fragt sich, wozu so ein Gesetz? Die jungen Israelis fahren ja lieber nach Goa als nach Bagdad. Dass man sie dort antrifft, ist mehr als unwahrscheinlich. In der Tat ist dieses Land alles andere als ein Urlaubsland, obwohl es, reich an pittoresken Landschaften, archäologischen Schätzen und pulsierenden Städten, wirklich das Zeug dazu hätte. Wozu also ein Gesetz, für den unwahrscheinlichsten Fall, dass man in Mossul, Kirkuk oder Basra zufällig im Café, beim Bäcker, Schuster, oder sonst wo einen Israeli kennenlernt? Nein, man wird nicht nur keine Israelis finden. Jegliche Juden wurden aus diesem Land gründlich vertrieben. Mit Pogromen wie dem Farhud 1941 in Bagdad, mit zahlreichen Schauprozessen und der öffentlichen Hinrichtung 1969 von 14 Menschen, die der israelischen Spionage bezichtigt wurden, darunter 9 Juden, drei Muslime, zwei Christen. Mit antisemitischen Gesetzen die zur Entlassung jüdischer Beamter führten, zum Boykott jüdischer Geschäfte und Einfrieren jüdischen Vermögens.
Um ihnen auch die Rückkehr unmöglich zu machen, wurde 2006 ein neues Gesetz erlassen, das allen Irakern und deren Kindern, die vertrieben und ausgebürgert wurden, sei es aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen, die Rückkehr in die Staatsbürgerschaft garantiert - außer den vertriebenen Juden. Man bezog sich dabei auf Gesetze aus den Fünfzigern, die besagten, dass, wenn Juden den Irak nach Israel verlassen wollten, sie die Staatsbürgerschaft und ihren Besitz abgeben und ein Dokument unterschreiben mussten, nie wieder zurückzukehren. Forderungen von irakischen Juden, die Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, gibt es bis heute. Und Heimweh, großes Heimweh, das kann man in Ariel Sabars Buch „My father's paradise. A son's search for his jewish past in Kurdistan Iraq" über seinen Vater nachlesen, der als Kind aus seiner Heimat vertrieben wurde. Oder bei dem Schriftstellers Samir Naqqash, der Bagdad mit 13 Jahren verlassen musste, Zeit seines Lebens auf Arabisch schrieb, sich als Iraker im Exil sah und dem auch sein letzter Wunsch verwehrt blieb, im Irak begraben zu werden.
Zurück zum neuen Gesetz. Die schiitische Mehrheit im Parlament hat es mit auf den Weg gebracht. Auch hier ist die Handschrift des iranischen Regimes zu erkennen, das seinen Einfluss im Irak die letzten Jahre systematisch ausgebaut hat, wie iranische Geheimdokumente, die der „New York Times" vorliegen, belegen. Aber es ist nicht nur der iranische Einfluss. Das neue Gesetz ist im Grunde nur ein weiteres antisemitisches Gesetz in einer Reihe antisemitischer Gesetze. Es ist ein Ablenkungs-Antisemitismus, den man auch aus dem Syrien Assads kennt: Wenn nichts funktioniert im Land, wenn das Regime völlig korrupt ist, dann ist es gut, einen Sündenbock zu haben, den man bis in alle Ewigkeit hassen und bekämpfen kann. Auch wenn man die letzten Juden schon vor Jahrzehnten vertrieben hat. Im Irak macht man trotzdem weiter.
Die 300 Iraker, die sich im Jahr 2021 im kurdischen Erbil bei einer Konferenz zum Abraham Abkommen dafür aussprachen, Beziehungen zu Israel aufzunehmen, wurden mit juristischen Verfahren und Morddrohungen drangsaliert. Was ist das anderes als eine Geisteraustreibung, als ein Wahn? Denn was sollten die paar Kinder und Enkelkinder von vertriebenen Juden denn im Irak wollen, außer einmal das Land zu sehen, in dem ihre Eltern aufgewachsen sind; durch die Straßen zu laufen, in denen ihre Großeltern gespielt haben - und endlich mal die Wassermelonen zu essen, von denen zu Hause immer gesprochen wurde.