Die langen Locken sind ab, das „t" aus dem Vornamen gestrichen und das Pronomen „sie" im Englischen „she" durch das genderneutrale „they/them" ersetzt worden. Kae Tempest hat ein neues Album veröffentlicht. Es ist neben zahlreichen Gedichtbänden, Theaterstücken, einem Roman und dem im letzten Herbst auf Deutsch erschienenen Essay „Verbundensein" mittlerweile Tempests fünftes Album.
Die Protagonisten, die in den früheren Alben die Tracks wie Romanfiguren bevölkert haben, sind verschwunden. An ihre Stelle ist ein Ich getreten - Tempest scheint nun von sich zu erzählen - zumindest ein lyrisches Ich. Autofiktionales Spoken Word vielleicht? Das Coverfoto hat Wolfgang Tillmans gemacht.
Es zeigt Tempest mit nackten Schultern vor einem Baumstamm mit grünen Blättern. Im Gegensatz zum Baum bleibt Tempest unscharf. Das Coverbild scheint Programm. Wer jetzt aber, das Album ist schließlich zu Covid-Zeiten entstanden, pandemische Nabelschau erwartet, irrt. Ja, der Blick auf „The line is a curve" geht nach innen.
Der Blick geht nach innenDie Tracks handeln von Gefühlen, von Verletzlichkeit, von Selbstentblößung und Selbsterkenntnis. „I'm neither your wife nor your sister/ I'm deeper / I'm here" heißt es, oder es kippt so wunderschön vom Lakonischen ins Pathetische: „When I smoke I remember my mother smoking / There can't be healing until it's all broken / Break me".
Da schrammelt eine Gitarre, da ist ein Piano zu hören, da die Drums und immer wieder Synthesizer. Über allem liegt die unverkennbare Kae-Tempest-Stimme mit ihrem unverkennbar britischen Akzent. Man kann es Rap nennen, eher Vortrag oder Sprechgesang, dabei singt Tempest nicht. Die so oft gerühmte Wut in Tempests Stimme ist gewichen, und es scheint Platz zu geben für Kollaborationen. Zum ersten Mal auf einem Album von Tempest sind auch andere Stimmen zu hören. Den eigenen Text in fremden Mündern.
Tempest hat die eigene Stimme einmal fast verloren - vier Auftritte an einem Abend, Alkohol, Drogen, Exzess. Sie musste dann operativ gerettet werden: „My voice (...) My pass. The one thing about me, as I saw it at the time, that made it okay for me to exist in public, considering all the things that I was - dyke, fat, bloke, unfemale, unmale, anxious, full of dysphoric shame". Stimme und Lyrik hätten die Flucht aus dem eigenen Körper ermöglicht. Nach der Operation zum Schweigen verurteilt, hätte Tempest das Zuhören lernen müssen.
„The Line is a curve" klingt in allem seltsam leicht. Als hätte Kae Tempest einen Haufen Ballast abgeworfen, all das Politische, das sonst in ihren Texten zu finden ist, Kapitalismuskritik, Gentrifizierung, das Leid der Armen und Entrechteten, tritt hier in den Hintergrund. Es ist nicht weg, und das tut dem Album gut. Nicht falsch verstehen. Ja, jeder, der nicht komplett unempathisch ist, ist gegen Armut und herzlosen Raubtierkapitalismus.
Ballast abwerfenUnd Tempest ist weder unempathisch, noch zynisch. Bloß blieb die ganze Sozialkritik bei Tempest bisweilen etwas unterkomplex und wird im Tonfall einer Predigt vorgebracht wie im Essay „Verbundensein" (Der Kapitalismus, die Konkurrenz macht uns einsam, und retten kann uns allein die Macht der Kreativität).
Oder mündet in einer Unterschrift unter einem mit BDS verbandelten Kulturboykott-Aufruf, was in Deutschland für ein längeres Debakel samt abgesagtem Auftritt sorgte. Im „Spiegel" hat Tempest die Unterschrift noch einmal in Frage gestellt und in Erwägung gezogen, zu naiv gewesen zu sein.
Auch wenn das Album bisweilen ein bisschen zu deftig ins Pathos abrutscht (die allmächtige Macht der Liebe im letzten Track), ist das Zweifelnde, das Fragende doch seine Stärke. „I just wanna keep climbing, climbing / And I don't know why /I don't mind", heißt es und „You swim, you swim, / you hope to drown". Die Ambivalenz des Fühlens, die Linie, die beim genaueren Betrachten doch eine Kurve ist.