Ronya Othmann
Ich lese Bücher zu Ende. Egal wie sehr sie mich quälen. Ein Buch, das man nicht zu Ende liest, hat man nicht gelesen, sage ich mir. Und über Bücher, die man nicht gelesen hat, spricht man nicht. Das hat mit Anstand zu tun. Ebenso unanständig finde ich gekürzte, handlich gemachte Ausgaben. Entweder ich lese ganz oder gar nicht. Ein paar wenige Bücher aber habe ich trotzdem nicht zu Ende gelesen. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist eines davon. Ich hatte für ein Uni-Seminar vor sieben Jahren einmal angelesen und nehme es mir seitdem vor. Und je mehr Zeit vergeht, desto schwerer liegt dieser Vorsatz. Ich sage also lieber, ich habe es nicht gelesen. Angelesene Bücher finde ich noch schlimmer als ungelesene Bücher. Eine Freundin sagt zwar: „Es ist nicht schlimm. Fast niemand hat das zu Ende gelesen." Aber was kümmern mich andere, mich quält allein, dass ich es nicht zu Ende gelesen habe. Jedes Mal im Supermarkt, wenn ich an den eingeschweißten Madeleines vorbeilaufe, muss ich daran denken.
Ich verspreche also hiermit, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu Ende lesen und Proust zu seinem 151. Geburtstag gebührend zu gratulieren. Ich werde in der Buchhandlung anrufen, mir den Schuber bestellen, weil: Den haben die natürlich nicht auf Vorrat, weil ja niemand in die Buchhandlung spaziert und sich spontan diese 15 kg kauft und zu Staubsaugerbeutel und Kaffee in die Tasche steckt. Proust kaufen ist Commitment, man muss das planen: nimmt man die Bahn oder das Rad. Beim Rad ist es ratsam, Spanngurte mitzunehmen, damit die 15 kg Proust nicht vom Gepäckträger fallen. In der Bahn wäre eine Sporttasche gut oder eine IKEA-Tüte, die halten was aus. Auch das Lesen muss man planen, denn es braucht Zeit. Für diese 5200 Seiten Leseexzess wäre der Lockdown ein guter Zeitpunkt gewesen. Aber auf einen vierten Lockdown will ich nicht hoffen, deswegen muss der Sommer reichen.
Von der Autorin erschien zuletzt „Die Sommer" (Hanser). Zum Original