Ein Jahr Corona in Sachsen Icon: Spiegel Plus So ein Mensch wollte man doch nie werden
Im Frühjahr flanierte ich noch durch die Leipziger Parks, heute steigen die Corona-Zahlen, während einen die Maskenverweigerer in der S-Bahn angrinsen. Ist es hier schlimmer als anderswo? Das fragen alle. Es fühlt sich zumindest so an.
Was war passiert? Im April hatte ich noch Freund*innen, die in anderen Bundesländern leben, am Telefon gesagt: "Zum Glück bin ich in Sachsen, hier sind die Zahlen niedrig."
Wenn man in Sachsen lebt, wird man ja sonst von Leuten außerhalb von Sachsen selten beneidet. Weshalb die Zahlen so niedrig waren, konnte ich mir damals nicht erklären. Vielleicht, weil es in Sachsen keinen Karneval gibt oder weil Sachsen eine geringere Bevölkerungsdichte hat als beispielsweise NRW. Aber all das ist Spekulation.
Ronya Othmann, geboren 1993 in München, ist Schriftstellerin und Journalistin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für ihren Text "Vierundsiebzig" über den Genozid an den Jesiden. 2020 erschien ihr Debütroman "Die Sommer", in dem eine junge Frau zwischen ihren Leben in Deutschland und Syrien hin- und hergerissen ist. Sie lebt in Leipzig.
Der Blick im April war meist aus dem Fenster. In meinem Bekanntenkreis wurden fleißig Masken genäht, bevor es überhaupt eine Maskenpflicht gab, es wurde zu Hause geblieben, die Selbstquarantäne an WG-Küchentischen geplant, bevor der Freistaat die entsprechenden Regeln aufstellte. Es wurde die Parks und hübschen Gründerzeitstraßen rauf- und runterflaniert. Diskutiert wurde, ob Corona zu einer solidarischeren Gesellschaft führe. Gehofft wurde, dass man sich schütze, um andere zu schützen.
Die Zahlen blieben niedrig. Leipzig fühlte sich sicher an. Die großzügige Architektur, breite Gehwege, lange Straßen, weitläufige Parks. Die Stadt wurde von etwas, durch dass ich mich täglich bewegte, zu Fuß, mit Bus, Bahn und Fahrrad, zu etwas, das ich betrachtete. In dem ich las wie in einem Buch. Ich ging durch die Stadt, als wäre sie ein Museum.
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