Am nördlichen Stadtrand stehen sich zwei Dynastien gegenüber. Auf der einen Seite der Straße, durch den Eingang hindurch, bereitet sich die Sociedad Rural, der Verband der Großbauern, auf sein hundertjähriges Jubiläum am Wochenende vor. Blank geputzte Landwirtschaftsmaschinen stehen neben Bühnen, das erste Fleisch liegt auf dem Rost, dahinter tönen die Rinder. Der Himmel ist bewölkt, die Luft schwül.
Gegenüber, auf dem Mittelstreifen der Straße, kämpfen Männer auf Gartenstühlen für die Rückkehr des Peronismus. Sie stehen auf, falten den Pavillon auseinander, setzen das Schild "Moccero Intendente" aufs blaue Dach und hauen Befestigungspflöcke in den Rasen. Heute ist ein großer Tag für den Bürgermeisterkandidaten. Die Agrarausstellung ist die zweitgrößte in der Provinz Buenos Aires, aus dem ganzen Wahlkreis Coronel Suárez werden die Menschen kommen. Am 27. Oktober finden die Wahlen statt.
Hier im Süden der Provinz, rund sieben Busstunden von der argentinischen Hauptstadt gelegen, deutet zunächst wenig darauf hin, dass unter dem marktliberalen Präsident Mauricio Macri in den vergangenen eineinhalb Jahren Millionen Menschen in die Armut gerutscht sind; sich etwa 40 Prozent der Argentinier die Dinge des täglichen Bedarfs nicht leisten können; dass der Staat vor dem Bankrott steht und die Inflation die dritthöchste der Welt ist. Seit 1950 hat Argentinien ein Drittel der Zeit in Rezession verbracht, nur in der Republik Kongo war es länger.
Die Ursachen der Krisen sind fast immer gleich: Wie in Coronel Suárez kollidieren die Interessen von Industrie und Agrarwirtschaft, irgendwann fehlen die Dollar für nötige Importe, der Staat verschuldet sich; Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut geraten außer Kontrolle. Was mühsam aufgebaut wurde, fällt in sich zusammen.
Ricardo Moccero kennt diese Zyklen. "Ich mische mich lieber unter die Leute und spreche mit ihnen direkt", sagt er. Seine Helfer in der Parteizentrale sind etwas erstaunt. Verpasst er da nicht eine Chance, für sich zu werben? Der 63-jährige Ex-Bürgermeister bleibt dabei. "Nein, nein, ich werde bestimmt nicht bei der Agrarausstellung eine Rede halten." Nur als Bürgermeister dürfe er als letzter vom Podest herunter reden und könne dann direkt auf Kritik reagieren. "Das mache ich nächstes Jahr." Außerdem gebe es ja auch den Wahlkampfstand gegenüber des Eingangs. "Übrigens, haben wir Strom für Licht dort?" Nur um sicher zu gehen.
Fünf Amtszeiten hatte Ricardo Moccero im Rathaus gesessen, die rund 40.000 Menschen des Wahlkreises von 1995 bis 2015 durch die Krisen gesteuert. Jetzt will er zurück. Und so organisiert er hier, rund zehn Minuten Fußweg vom Rathaus entfernt, die Zukunft des Peronismus mit. Draußen steht groß der Name seines Vaters auf weißer Wand, der war vor ihm Bürgermeister. Sein 63-jähriger Sohn sitzt unter einem Stadtplan und trinkt von seinem frisch aufgebrühten Mate-Tee. "Ja, die Menschen wollen die Vergangenheit zurück", schmunzelt Ricardo Moccero. Die Menschen, das sind für ihn die Arbeiter, die Angestellten, die im öffentlichen Dienst. Nicht die Agrarunternehmer. "Ich hoffe, wir werden uns auch nach der Wahl noch an einen Tisch setzen", zeigt sich Ricardo Moccero skeptisch. Derzeit gilt zumindest ein Burgfrieden.
Die Geschichte mit NéstorRicardo Moccero ist in Coronel Suárez eine halbe Legende. Während eines Auftritts des frisch gewählten Präsidenten Néstor Kirchner im Jahr 2003 hatte er sich neben die Bühne gekämpft und an dessen Jackett gezupft. "Herr Präsident, wir haben ein Problem mit unserer Schuhfabrik und ich brauche Ihre Hilfe." Kirchner hielt inne, hörte dem Bürgermeister kurz zu und versprach sie. Seither hat Ricardo Moccero bei den Peronisten einen Draht nach ganz oben. Innerhalb von rund zehn Jahren erreichten die Stadt und die nahen ehemaligen deutschen Kolonien Vollbeschäftigung.
Es war das Ergebnis eines gemeinsamen Kraftakts mit Néstor: Subventionen für die Schuhfabrik, Gründungsinitiativen für die dort Entlassenen und angestoßene Infrastrukturprojekte wie ein Kinderkrankenhaus, später ein neues Busterminal und eine Schule. Auch Dank Zoll- und Steuereinnahmen von der Agrarwirtschaft. Der Wahlkreis wurde vom Notfall zum Modellbeispiel linker Wirtschaftspolitik. Néstors Frau und 2007 gewählte Nachfolgerin Cristina kam selbstredend mit einem Tross Politiker zum Händeschütteln vorbei. Als Ricardo Moccero davon erzählt, schiebt einer seiner Mitarbeiter stolz einen 150-Seiten-Katalog mit den Fotos von damals über den Tisch. "Auch hier wächst das Land: Nation, Provinz, Gemeinde" ist auf der himmelblauen Front zu lesen. "Wir wollen uns alles zurückholen, was wir verloren haben", sagt Ricardo Moccero.
Als die Krise vor der vergangenen Wahl begann, öffnete Cristina im Gegenzug für chinesische Kredite unter anderem die Tore für Schuhimporte. Mit der günstigen Ware aus Fernost konnten die Klein- und mittelständischen Betriebe in Coronel Suárez kaum konkurrieren, die Arbeitslosigkeit kam und dann die Wahl. Ricardo Moccero trat nicht an, also gaben die Menschen hier Macri und dem Bürgermeister seines Parteienbündnisses eine Chance. Doch der Präsident hat die Krise nur verschärft. Die offizielle Arbeitslosigkeit in Coronel Suárez ist mit 11 Prozent etwa doppelt so hoch wie vor vier Jahren. Der Noch-Bürgermeister will nicht über die eigene Amtszeit reden. Er habe zu viel zu tun, heißt es.
Peronismus bedeutet ArbeitsplätzeHunderte Familien hätten nicht genug zu essen, beklagt die Opposition. Ein Unding für die Einwohner von Coronel Suárez, das neben seiner großen Schuhfabrik auch für seinen Wohlstand bekannt ist. Die Straßen des Stadtzentrums sind großzügig angelegt, Häuser im Kolonialstil wechseln sich mit gepflegten Neubauten ab. Der Stimmenumschwung bei den Vorwahlen, einer Art landesweiten Wahlumfrage, fiel der Krise entsprechend deutlich aus. Alles deutet auf einen Sieg des Peronisten Alberto Fernández hin, der mit der umstrittenen Ex-Präsidentin Cristina als Vize antritt. Und von Rückkehrer Ricardo Moccero, der sich mit ihnen verbündet hat. Einer, der die Ärmel hochkrempelt. Der Erfahrung damit hat, die Stadt als Bürgermeister durch Krisen hindurch und wieder heraus zu führen.
Zurück in die Vergangenheit, eben davor warnt Macris Wahlbündnis, wenn sie über den politischen Gegner reden. Doch hier bedeutet zurück in die Vergangenheit für die Menschen nicht nur Korruption, Parallelwährung und geschönte Statistiken, um Misswirtschaft zu verschleiern, was Cristina und den Peronisten vorgeworfen wird. Es bedeutet Arbeitsplätze.
Wenn Ricardo Moccero über seine jetzigen Pläne redet, wie er die Menschen mit Nachbarschaftsprojekten und subventionierten Maschinen wieder in Arbeit bringen will, endlich das Busterminal und die Schule fertigstellen will, schwingt immer diese Selbstsicherheit mit, es schon einmal geschafft zu haben. Er und Nestor und alle zusammen. Überhaupt, Nestor. "Er hat sich um alles selbst gekümmert: Industrie, Straßen, Wasserversorgung, für ihn ging es immer weiter, weiter, weiter", erinnert sich Ricardo Moccero. Größer als Nestor, das ist nur Juan Manuel Perón, der Übervater des argentinischen Sozialstaats und, logisch, Namensgeber des Peronismus.
Industrie gegen AgrarwirtschaftAm nördlichen Ende der Stadt, die Auffahrt zur Sociedad Rural und ein paar ausladende, flache Stufen hinauf, herrscht im Innern der Zentrale erleichternde, stille Kühle. Ein bisschen Papier raschelt, die Empfangsfrau versucht, den Verbandspräsidenten per Telefon zu erreichen. Ein gerahmtes Foto über verzierten Polstermöbeln aus dunklem Holz erinnert stolz an den Widerstand von 2008; als die Landwirtschaft mit der linken Regierung brach, weil Cristina Ausfuhrzölle eingeführt hatte, um Sozialprogramme zu finanzieren: "Die Landwirtschaft schrieb eine Seite der Geschichte", ist darauf zu lesen.
Draußen, hinter der Ausstellungsfläche, stehen Koppelzäune, so weit das Auge reicht. Es riecht nach Heu. Guillermo Urruti, stämmig, helle Hose und Gaucho-Mütze auf dem Kopf, kontrolliert gemeinsam mit seinem Sohn und Tierärzten die Rinder, die am Wochenende vorgeführt, prämiert und versteigert werden sollen. Der Verbandspräsident klagt kurz über die derzeitige Dürre und das Präsident Macri nicht die Versprechen eingehalten habe, alle Ausfuhrzölle zu streichen. Aber er werde sicher wieder für ihn stimmen, denn die Produktion im Agrarsektor sei mehr geworden, die Zollbelastung zumindest niedriger als unter Kirchner und die neue asphaltierte Fernstraße wichtig.
"Ich will nicht zurück in die Vergangenheit, zu den Zöllen. Zu staatlich kontrollierten Agrarexporten, worüber jetzt wieder geredet wird." Jeden Tag, sagt der 61-Jährige, mahnen ihn die Kornspeicher aus Zement, die Perón dafür errichten ließ und noch immer an den Bahnschienen stehen, die sich durch die Stadt ziehen. Ob Alberto Fernández als künftiger Präsident oder Cristina, das macht für Guillermo Urruti keinen Unterschied. Und die derzeitige Krise? "Uns Landwirten geht es ziemlich gut, viel besser als vor vier Jahren", zeigt sich Guillermo Urruti positiv gestimmt und rückt halb entschuldigend seine Mütze zurecht. Agrarexporte werden in Dollar bezahlt.
Dann erzählt der Unternehmer, wie einer seiner Vorfahren das Land hier urbar machte, die Stadt mit gründete und die Sociedad Rural. Wie ihn sein Vater schon als kleines Kind mit in die Zentrale nahm, die er nun seit vier Jahren leitet. Irgendwann soll sein Sohn den Agrarbetrieb übernehmen. Eine Agrardynastie. "Wenn in Argentinien jemand die Wirtschaft aus der Krise heben kann, sind wir es", sagt Guillermo Urruti. So sei es immer gewesen. Er selbst hat sich im Wahlkreis für Macris Bündnis aufstellen lassen. Der Präsident in der Hauptstadt brauche eben mehr Zeit.
Inflation frisst LöhneIm Süden, über die Bahnschienen hinweg an den Kornspeichern vorbei, sehen das die Arbeiter ganz anders. Die Schuhfabrik ist seit Jahrzehnten der größte Arbeitgeber im Wahlkreis, ehemals produzierte sie nur für Adidas, inzwischen ist sie in brasilianischer Hand. "Die Inflation frisst den Lohn auf, es ist schwierig, bis ans Ende des Monats zu kommen," sagt Gewerkschaftsvertreter Antonio Godoy. Derzeit sind es für ihn umgerechnet 400 Euro. Kurz bevor die Krise im April 2018 begann, waren es 1100 Euro. Antonio Godoy, 49 Jahre alt, arbeitet seit 15 Jahren in der Fabrik und ist in einer der höchsten Gehaltsstufen.
"Bei der Wahl stimme ich für Cristina. Die Linken haben immer die Arbeiter hier in Coronel Suárez unterstützt. Als sie Präsidentin war, kam sie sogar zu Besuch." Von Macris Leuten hingegen habe sich in den vergangenen Jahren nie jemand blicken lassen, auch nicht der aktuelle Bürgermeister. Im Jahr 2016 übernahm der neue Eigentümer, entließ 1200 Angestellte und straffte die Produktion. Das hatte weitreichende Auswirkungen: Vor der Firmenübernahme stellten lokale Zulieferbetriebe die Einzelteile her. Jetzt wird fast alles importiert und schlicht zusammengesetzt. Nur einer von rund 20 Betrieben konnte sich retten. In der vergangenen Woche traf sich Antonio Godoy mit Ricardo Moccero, weil dieser wissen wollte, was er tun könne, damit die Fabrik mehr Leute einstellt.
In der Parteizentrale weist einer der Helfer Ricardo Moccero darauf hin, dass er noch etwas zu erledigen habe. Ein paar Unternehmer wollen Fotos mit dem künftigen Bürgermeister machen. Die Stadt soll eine Nudelfabrik bekommen, mit der das Mehl der Region weiterverarbeitet werden soll. "Unter Cristina haben wir das Projekt angefangen", sagt Ricardo Moccero. Jetzt sind die Maschinen angekommen. "Und mit ihr werden wir es fertigstellen", grinst er. Und dann will er noch zum Wahlkampfstand vor der Sociedad Rural, denn auch die sei wichtig. "Wir kennen uns alle hier. Irgendwie müssen wir ja miteinander auskommen."
Quelle: ntv.de