In Thüringen soll eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung starten. Koalitionsforscher Martin Gross erklärt, was die Vorteile sind und warum eine solche Regierungsform im Bund nicht funktionieren würde.
Interview von Robin Hetzel
Lange mussten die Thüringer nach der Wahl im Oktober auf eine neue Regierung warten. Heute unterzeichnen die Linke, die SPD und die Grünen den Koalitionsvertrag. Es soll die zweite Amtszeit des Bündnisses unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow werden. Diesmal aber soll er eine Minderheitsregierung führen, die auf die Unterstützung von CDU und FDP angewiesen ist - eine Ausnahmesituation in Deutschland.
Der Politikwissenschaftler Martin Gross forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Parteienwettbewerb und hat über Koalitionsbildungen promoviert. Im Interview erklärt er, weshalb Minderheitsregierungen meist instabiler sind und warum eine solche Regierungsform im Bund nicht funktionieren würde.
Martin Gross: Eine Minderheitskoalition muss mehr mit der Opposition aushandeln. Damit gibt es ein größeres Machtpotenzial für die Oppositionsparteien, die - wenn man so will - die Regierung vor sich hertreiben können, indem sie die Zustimmung verweigern. Es kann auch zu Konflikten innerhalb der Regierung kommen, wenn ein Koalitionspartner eine Oppositionspartei anspricht, die ihr nahesteht, aber die anderen Regierungsparteien keinen Kompromiss mit dieser Partei schließen möchten.
Das ist vor allem möglich, wenn ein Antrag von CDU oder FDP kommt. In den Parteien gibt es sicherlich Teile, denen es egal ist, dass die AfD für eine Mehrheit gebraucht wird. Anders sieht es bei AfD-Anträgen aus. Da würden größere Teile der CDU und FDP vermutlich sagen, dass man so was nicht unterstütze, selbst wenn es inhaltlich ihren Wertvorstellungen oder Präferenzen entspräche. Anträge der AfD könnten also die anderen Parteien spalten - oder es entwickelt sich bei diesen ein gemeinsamer Grundkonsens, dass man generell nicht mit der AfD stimmt.
Eine wichtige Voraussetzung erfüllt Rot-Rot-Grün seit heute: Einen Koalitionsvertrag, der klarstellt, was die Regierungsversprechen sind. Die Erfahrung zeigt: Minderheitsregierungen setzen anteilig genauso viele Wahlversprechen um wie Mehrheitsregierungen. Sie machen aber von vornherein weniger Versprechen als Mehrheitskoalitionen, weil sie wissen, dass sie auf die Unterstützung der Opposition angewiesen sind.
Minderheitsregierungen sind tendenziell instabiler. Der Haushalt wird die erste große Nagelprobe sein, bei dem die Opposition um viele eigene Forderungen feilschen wird. Böse gesagt, muss sich die Regierung für manche Haushaltsprojekte die Opposition kaufen. Weil aber offen ist, wer der größte Profiteur von Neuwahlen wäre, wird es auch nicht zu ganz großen Konfrontationen kommen.
Durch die wechselnden Mehrheiten kann es dazu kommen, dass die Präferenzen der Wähler besser widergespiegelt werden. Es gibt im Parlament ja oft Mehrheiten für Projekte, die eine Mehrheitsregierung aber nicht umsetzen kann, weil ein Koalitionspartner nicht mitmacht. Auf Bundesebene sind das zum Beispiel das Tempolimit oder die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen.
Ja. Für Gesetze im Bund braucht man nicht nur eine Mehrheit im Bundestag, sondern auch im Bundesrat. Dessen Möglichkeiten, Druck zu machen und zu blockieren, wären bei einer Minderheitsregierung noch größer, als es jetzt schon der Fall ist. Das kann zum politischen Stillstand führen oder zu großen Zugeständnissen für die Bundesländer.
Es ist meiner Meinung nach falsch, da auf andere Länder zu blicken. Die skandinavischen Länder etwa haben eine politische Kultur, die auf Kompromissen beruht, während es bei uns eher die Tendenz gibt, Kompromisse als etwas Schlechtes zu betrachten. Dazu kommt, dass die Polarisierung zwischen den Parteien in Skandinavien nicht so groß ist. In den Parlamenten sitzen die Abgeordneten nicht mit ihren Fraktionen zusammen, sondern mit denen aus ihrer Region. Der Austausch ist dort deshalb größer. Und die Regierungen kommen zwar schneller ins Amt, sind aber auch instabiler.